
Darwin bittet zu Tisch! | 09.03.2009
Dr. Sabine Paul erklärt, woher unsere Zivilisationskrankeiten kommen, was es mit den Milch- und Müsli-Märchen auf sich hat und wie ein optimales Dinner mit Darwin aussehen könnte. Vom Essen als Fehlanpassung bis zum Essen als Genuss!
Frühlingsanfang: Es grünt und blüht, die bleierne Wintermüdigkeit weicht frischen Frühlingsgefühlen. Aber für 20 Millionen Menschen in Deutschland bricht eine Saison des Schreckens an: Heuschnupfen mit tränenden Augen und geschwollenen Schleimhäuten durch Pollenallergie. Jeder Dritte leidet inzwischen an mindestens einer Allergie: gegen Pflanzen, Hausstaub, Tierhaare, Metalle, Insektengift oder Nahrungsbestandteile – nicht nur im Frühjahr. Etwa 40-50% der Bevölkerung kämpfen zusätzlich das gesamte Jahr über mit chronischen Beschwerden wie Magen-Darm-Problemen oder Kopfschmerz, die auf bestimmte Nahrungsmittelunverträglichkeiten zurückgehen. Unsere Körper streiken – immer häufiger. Warum reagieren sie so empfindlich auf die heutige Umwelt und bekämpfen sich letztlich sogar selbst?
Das Rätsel der Zivilisationskrankheiten
Körperliche Gesundheit setzt voraus, dass die genetischen Anlagen eines Organismus und seine Umwelt zusammen passen. Die genetisch fixierten Merkmale, die den menschlichen Körper und sein Verhalten heute bestimmen, haben sich im Lauf von zwei Millionen Jahren herausgebildet und sind an das Leben als Jäger und Sammler angepasst.
Seit etwa 10.000 Jahren bilden unsere Nahrung und unsere Lebensweise in vielerlei Hinsicht eine neue Umwelt, während sich unsere Gene seitdem kaum verändert haben. In der Konsequenz sind unser Stoffwechsel und unser Immunsystem oft nicht gut an die neue Umwelt adaptiert. Solche Fehlanpassungen können letztlich zu gesundheitlichen Problemen führen. Das Auftreten vieler Nahrungsmittelallergien, chronischer Erkrankungen bis hin zu Übergewicht, Diabetes und Krebs, also Phänomene, die als Zivilisationskrankheiten bezeichnet werden, lassen sich evolutionsbiologisch mit dieser Diskordanz- oder Fehlanpassungs-Theorie erklären.
Was bedeutet dies konkret bezogen auf unsere Ernährung? Das Jäger- und Sammler-Leben in der Altsteinzeit (Paläolithikum) und die damalige Ernährung lassen sich inzwischen sehr gut rekonstruieren. Dabei fällt auf, dass die Nahrungsquellen sehr vielfältig waren: Neben Fleisch, Fisch (und die heute für mitteleuropäische Küchen eher ungewohnten Insekten oder Schlangen) bestand der Großteil der Nahrung aus Früchten, Nüssen, Samen, Beeren, Wurzeln, Knollen, Blättern, Blüten und Pilzen. Durchschnittlich war etwa ein Drittel der Nahrungsquellen tierischen und zwei Drittel pflanzlichen Ursprungs. Außerdem erhitzten die Jäger und Sammler seit mindestens 800.000 Jahren (vermutlich sogar seit 1,8 Millionen Jahren) ihre Nahrung. Dadurch erschlossen sie sich neue Nahrungsquellen, die roh nur schwer verdaulich oder giftig wären. Insgesamt entwickelten die Menschen in dieser Zeit ein Nährstoff-Optimierungsprogramm: Die kontinuierliche Suche nach einer sehr vitamin- und mineralstoffreichen Kost mit vielen Ballaststoffen und einem verhältnismäßig hohen Proteinanteil. Denn nur die beste Nährstoffversorgung sicherte das Überleben und die erfolgreiche Reproduktion.
Mit der Neolithischen Revolution vor ca. 10.000 Jahren änderte sich die Ernährung grundlegend. Durch Ackerbau wurde Getreide als wichtigste Kohlenhydratquelle und Basisernährung eingeführt. Viehzucht ermöglichte außerdem die Nutzung von Tiermilch über die menschliche Säuglingszeit hinaus. Dass diese nun stark veränderte Nahrungszusammensetzung schon damals gesundheitliche Probleme verursachte, zeigen paläopathologische Funde: Die Körpergröße der Menschen nahm ab, man findet Zahnschäden, Knochen- und Gelenkentzündungen, Hautkrankheiten und eine erhöhte Sterblichkeit – in der Summe deutliche Hinweise auf eine Fehl- und Mangelernährung.
Mit der großzügigen Verwendung von gepressten Pflanzenölen seit ca. 5000 Jahren und von Zucker seit 500 etwa Jahren entfernten sich die Menschen noch weiter von ihrer ursprünglichen Ernährungsform. Schließlich kam durch die Industrielle Revolution eine immer größer werdende industrielle Verarbeitung und Herstellung von Nahrungsmitteln auf. So wundert es kaum, dass sich auch die Haupttodesursachen der Menschen verschoben haben: Starben die Jäger- und Sammler meist an Infektionskrankheiten, durch Kindersterblichkeit und akute Verletzungen, so fallen moderne Menschen in der Regel chronischen Krankheiten zum Opfer (Herz-Kreislauf-Tod, Krebs und Diabetes) und quälen sich zusätzlich mit Allergien und Autoimmunerkrankungen. Inzwischen sinkt die (in den letzten 150 Jahren mühsam gesteigerte) Lebenserwartung sogar wieder, wie in den USA seit dem Jahr 2000 bei den unter 54jährigen nachgewiesen wurde.
Milch- und Müsli-Märchen
Wie sieht nach offiziellen Ernährungsrichtlinien eine gesunde Ernährung im 21. Jahrhundert aus? Wir sollten viele Vollkornprodukte, Milch, Obst und Gemüse, aber nur mäßig Fleisch, wenig Fette und Zucker zu uns nehmen (etwa ein Müsli als „gesundes Frühstück“). Dabei sollten wir (falls dies jemand im Alltag nachrechnet) ca. 53% Kohlenhydrate, 16% Protein und 31% Fett zu uns nehmen. Diese Vorgaben passen aber in vielerlei Hinsicht nicht zu unserm paläolithischen Erbe und zu unseren Vorlieben! Man kann sogar so weit gehen zu behaupten, dass diese Richtlinien nicht den natürlichen Bedürfnissen der Menschen entsprechen und damit letztlich die als „gesund“ propagierte Nahrung sogar krank machen kann. Warum ist das so? An vier Beispielen lassen sich die wichtigsten Punkte erklären:
1) Glutenhaltige Getreide (Weizen, Roggen, Hafer, Dinkel, Gerste) und Milch sind heute die breite Basis von Standard-Ernährungspyramiden, waren aber als Nahrungsquellen für Jäger und Sammler nahezu unbekannt. Glutenhaltige Getreide können massive Darmschäden verursachen, die als Zöliakie bekannt sind und jeden 200. Deutschen betreffen. Noch häufiger sind verzögerte Nahrungsmittelallergien, die hauptsächlich durch glutenhaltige Getreide (sowie Kuhmilch und Hühnerei) ausgelöst werden und etwa 30-40% der Bevölkerung mit verschieden stark ausgeprägten Magen-Darm-Beschwerden treffen.
2) Auch Milch ist nicht problemlos für jeden verträglich, denn ursprünglich war der Zustand der Milchzucker-Unverträglichkeit verbreitet: Jäger und Sammler bildeten nur während der Stillzeit das Enzym Laktase, welches den Milchzucker spaltet und verdaulich macht. Nach Ende der Stillzeit wurde die Bildung der Laktase eingestellt, da sie nicht weiter benötigt wurde – andere Milchquellen als Muttermilch waren nicht vorhanden. Erst mit Beginn der Viehhaltung vor rund 8.000 Jahren breitete sich in Zentral- und Nordeuropa die Fähigkeit aus, die Laktase bis ins Erwachsenenalter aktiv zu halten, und so die Milch der Nutztiere verwenden zu können. Dass die meisten Menschen in Mitteleuropa inzwischen Milch vertragen, ist eines der sehr wenigen bekannten Beispiele einer genetischen Anpassung in den letzten 10.000 Jahren. Allerdings sind heute trotz überbordender Angebote an Milchprodukten noch immer ca. 15% der mitteleuropäischen Bevölkerung Milchzucker-intolerant – in anderen Ländern der Erde ist diese Unverträglichkeit noch weiter verbreitet, teilweise bis über 90%. Daher kann man übrigens das Märchen von der guten Milch als entscheidendem Kalzium-Lieferanten getrost beiseite legen – Menschen hatten und haben seit mehr als zwei Millionen Jahren auch ohne Milch äußerst belastbare Knochen, allerdings in Verbindung mit umfangreicher Bewegungsaktivität und einem deutlich höheren Gemüse-, Salat- und Fruchtanteil als in heutigen Industrienationen.
3) Die modernen Ernährungsgewohnheiten mit einem stark erhöhten Kohlenhydrat- und Fettgehalt im Vergleich zu paläolithischen Zeiten führen zu chronisch überhöhten Blutzucker- und Insulinspiegeln. Dies hat entscheidenden Einfluss auf den Zucker- und Fettstoffwechsel, die auf Dauer nachhaltig gestört werden. So kommt es zu Übergewicht, Zuckerkrankheit, Herz-Kreislauf-Beschwerden, chronischen Entzündungen und in Verbindung mit einem geschwächten Immunsystem auch zu Krebserkrankungen. Ein weiteres Beispiel für den negativen Einfluss großer Kohlenhydratmengen ist die Fruktose-Unverträglichkeit, die immer häufiger auftritt, da sehr vielen Lebensmitteln Fruchtzucker als Ersatzstoff für Kristallzucker beigesetzt wird (in Säften, Müsli, Marmelade, Müsliriegeln, Eis, Konserven, kalorienreduzierten Produkten, Sport-/Energiegetränken, aromatisiertem Wasser, etc.). Diese großen Fruktosemengen kann jeder Dritte derzeit schon nicht mehr abbauen und leidet dann oft an Blähungen und Durchfall.
4) Nahrungsmittelallergien belegen ebenfalls Schädigungen unseres Körpers durch neolithische Nahrungsbestandteile. Denn interessanterweise reagieren die meisten Allergiker kaum auf paläolithische Nahrungsquellen wie Fleisch, Salat, Gemüse, etc. jedoch überproportional häufig auf Proteine, die erst seit dem Beginn von Ackerbau und Viehzucht in großen Mengen verzehrt werden (Kuhmilch, Hühnerei, glutenhaltige Getreide) oder sogar erst vor wenigen Jahrhunderten aus anderen Regionen eingeführt wurden (z.B. die Erdnuss aus Südamerika).
In der Summe zeigt sich: bei weitem nicht alle Nahrungsmittel, die von offiziellen Stellen als „gesund“ propagiert werden (z.B. Milch und glutenhaltige Getreide), sind für jeden Menschen tatsächlich verträglich. Hinzu kommt, dass es individuell unterschiedliche Unverträglichkeiten gibt (z.B. eine Apfel- oder Erdnussallergie). Aktuelle Ernährungsrichtlinien berücksichtigen dies jedoch nicht.
Einwände oder Ausreden?
Mit Blick auf die Evolutionsbiologie ist offenkundig: Unsere paläolithischen, genetisch fixierten Ernährungsprogramme passen an entscheidenden Punkten nicht zur neolithischen Umwelt und Lebensweise. Die typischen Krankheiten der modernen Zivilisationen sind die Folge. Gelegentlich wird der Einwand erhoben, dass diese Erkenntnis nichts anderes als eine nostalgische „Paläo-Fantasy“ sei, dass man doch gar nicht genau wisse, wie Ernährung und Lebensweise in der Altsteinzeit wirklich aussahen, es sich also um Steinzeitmärchen handele. Außerdem habe die Evolution in den letzten 10.000 Jahren nicht still gestanden – es seien auch Anpassungen an die neolithischen Nahrungsmittel zu finden.
Natürlich ist es schwierig, aussagekräftige Daten zur Ernährung in der Altsteinzeit zu sammeln. Dennoch gibt es inzwischen eine umfangreiche Datenlage sowohl durch fossile Funde als auch von rezenten Jäger- und Sammlerkulturen. Außer der Ausbildung einer Laktose-Toleranz (die aber weltweit immer noch nicht vollständig ist) sind bislang kaum nennenswerte Beispiele für genetische Anpassungen an die neolithische Ernährung bekannt. Momentan sprechen alle Daten dafür, dass sich die genetische Konstitution eben nicht in größerem Ausmaß an die neue Ernährung angepasst hat.
Auffällig ist auch, dass die Kritiker der evolutionären Ernährungstheorie noch keine Alternative aufbieten können, um die beschriebenen Phänomene umfassend und stringent erklären zu können - z.B. warum wir heute an spezifischen Krankheiten leiden, oder warum ganz bestimmte Allergene dominieren. Die Erklärung ist mit einem evolutionären Ansatz jedoch sehr gut möglich. Der „Paläo-Fantasy“-Vorwurf erscheint daher vielmehr als Ausrede denn als überzeugendes Argument – vielleicht auch genutzt, um Fehler in der Ernährungspolitik nicht offen legen zu müssen.
Zwei Alternativen stehen zur Verfügung, um den aktuellen Gesundheitsproblemen zu begegnen: 1) Weiterhin ratlos abwartend und mehr schlecht als recht die offiziellen Ernährungsempfehlungen umzusetzen, und unreflektiert an die vorherrschenden Vorgaben zu gesunder Ernährung zu glauben, oder 2) mit evolutionsbiologischem Wissen Ernährungsprogramme zu formulieren, die den natürlichen menschlichen Bedürfnissen und Präferenzen entsprechen und damit eine hohe Chance auf erfolgreiche Umsetzung haben.
Dinner mit Darwin
Wie sieht nun ein Dinner aus, das Darwins Theorie und aktuellen Erkenntnissen zur evolutionären Ernährung entspricht?
Menschen haben im Lauf ihrer evolutionären Geschichte zwei verschiedene Ernährungsprogramme entwickelt. Das Nährstoff-Optimierungsprogramm führte zu Vielfalt, Qualität, einer guten Mineralstoff-, Vitamin- und Proteinversorgung, kurz: es ist das ursprüngliche Programm für unsere Vitalität, das wiederentdeckt werden sollte. Gleichzeitig existiert aber auch ein Energie-Maximierungsprogramm, welches eine starke Präferenz für fett- und kohlenhydratreiche Nahrungsmittel als „Nahrung fürs Gehirn“ ausgebildet hat. Beide Programme waren unter paläolithischen Bedingungen erfolgreich und wurden über Lust-/Unlustgefühle bei der Auswahl der Nahrungsmittel gesteuert. Nach Lust und Laune zu essen ist daher sehr wichtig - jedoch im Bewusstsein, dass die Energiemenge in den Industrienationen nicht mehr limitiert ist und die Nahrungsquellen heute nicht immer die beste Qualität haben.
Anleitung zum Dinner mit Darwin:
Schritt 1: Zutaten nach paläolithischem Muster auswählen: z.B. zur Vorspeise einen klassisch italienischen Antipasti-Teller mit einer Auswahl an gegrilltem und frischen Gemüse und Meeresfrüchten. Als Hauptgang etwa ein Steak mit einem frischem Gartensalat und Pinienkernen, dazu Backofenkartoffeln; alternativ: Gebratene Garnelen in frischer Tomatensoße auf Wildreis – und zum Nachtisch: Obstsalat mit Nüssen.
Schritt 2: Individuelle Verträglichkeit neolithischer Nahrungsmittel überprüfen: Wer sicher ist, Milch und/oder glutenhaltige Getreide, Hühnerei, etc. zu vertragen, kann diese Nahrungsmittel bei Bedarf dem Speiseplan zufügen – empfehlenswert ist dennoch, dies nicht jeden Tag zu tun. Ein Stück Kuchen z.B. ist eine grandiose Belohnung nach einer ausgiebigen Radtour, eine dunkle Schokolade mit hohem Kakao- und geringem Milchanteil versüßt das Ergebnis einer intellektuellen Anstrengung, z.B. den Abschluss eines Projekts.
Schritt 3: Vielfalt, Frische und Qualität genießen, um wichtige körperliche und emotionale Bedürfnisse zu erfüllen.
Auf eine kurze Formel gebracht lautet das Erfolgsgeheimnis einer vitalisierenden Ernährung: Evolutionsbiologie der Menschen verstehen – konsequent anwenden – und genießen.
Sabine Paul
Aktuelle Veranstaltungstipps
PaläoPower-Online Workshop: 13.-18. Mai 2009; Details: www.evolution-ernaehrung-medizin.de [2]
Dinner mit Darwin, 08. Mai 2009: Lesung mit Leckereien à la Darwin in Frankfurt/Main; Details: www.evolution-ernaehrung-medizin.de [2]
Literatur:
Junker, T., S. Paul. Der Darwin-Code: Die Evolution erklärt unser Leben. C.H.Beck Verlag, München, 2009
Eaton, S.B., M. Konner. Paleolithic nutrition – a consideration of its nature and current implications. The New England Journal of Medicine 312:283-289, 1985
Nemetz, P.N. et al. Recent Trends in the Prevalence of Coronary Disease. Archives of Internal Medicine 168(3):264-270, 2008
Cordain, L., et al. Origins and evolution of the Western diet: Health implications for the 21st century. American Journal of Clinical Nutrition 81:341-354, 2005
Burger, J. et al. Absence of the lactase-persistance-associated allele in early Neolithic Europeans. Proceedings of the National Academy of Sciences 104:3736-3741, 2007
© Dr. Sabine Paul, Frankfurt/Main, 07.03.2009
Text modifiziert nach dem Kapitel „Steak und Schokolade“ in: Der Darwin-Code: Die Evolution erklärt unser Leben, Thomas Junker & Sabine Paul, C.H.Beck Verlag, München, 2009
Links:
[1] http://www.darwin-jahr.de/sites/darwin-jahr.de/files/story/node-229-361.jpg
[2] http://www.evolution-ernaehrung-medizin.de