Darwin bittet zu Tisch! | 31.12.2008
Sabine Paul klärt auf: Wie kann man sich gesund und genussvoll zugleich ernähren?
Beobachtung in einem Restaurant: Das Kind am Nebentisch leert genussvoll den Salzstreuer über seinen Tomaten aus. Die entsetzte Reaktion der Eltern folgt prompt: „Kind, mach’ nicht soviel Salz aufs Essen, das ist ungesund!“ Seltsam, dass Kinder nicht wissen, was ihnen gut tut. Oder wissen gerade Kinder es doch – und nur die Erwachsenen haben kein Gefühl mehr dafür?
Wer hat uns die Lust am Essen verdorben?
Unser Ernährungsalltag ist von einem Wechselspiel der Gefühle und von paradoxem Verhalten geprägt. Einerseits lieben wir so genanntes ungesundes Essen wie Schokolade, Pizza und Pommes frites, andererseits plagt uns das schlechte Gewissen wegen des vielen Fetts und Zuckers - und verkürzt den Genuss der Lieblingsspeisen oft beträchtlich. Der Diätenhorror tobt seit Jahrzehnten – gleichzeitig breitet sich Übergewicht epidemieartig aus, die Deutschen sind inzwischen sogar die Dicksten in Europa. Offizielle Ernährungsrichtlinien und Ernährungspyramiden erdrücken uns, obwohl es nicht an guten Vorsätzen für eine gesunde Lebensweise mangelt. Warum ist es so schwer, gleichzeitig genussvoll und gesund zu essen? Warum wissen wir nicht mehr, wie eine natürliche und lustvolle Ernährung aussieht, die unseren Bedürfnissen gerecht wird?
Darwin auf den Tisch!
Unerwartete Unterstützung erhält man in dieser schwierigen Situation von einem der bedeutendsten Biologen aller Zeiten: Charles Darwin. In seinen Bahnbrechenden Werken „Über den Ursprung der Arten durch natürliche Zuchtwahl“ und „Die Abstammung des Menschen“ hat er das Prinzip der Selektion, d.h. der natürlichen und sexuellen Auslese beschrieben. Demnach sind oder waren alle erblichen heutigen Merkmale und Verhalten von Organismen nützlich, da sie zu einer bestimmten Zeit einen Überlebens- bzw. Reproduktionsvorteil darstellen. Dies führt dazu, dass langfristig körperliche Merkmale und Verhalten optimal an ihre Funktion in einer bestimmten Umwelt angepasst sind.
Darwinfinken: Die Art der Ernährung bestimmt die Schnabelform. Die Spezialisierung führt schließlich zur Entstehung neuer Arten.
Lässt sich Darwins Theorie auch auf die Erklärung unseres heutigen Ernährungsverhaltens und unserer Geschmacksvorlieben sinnvoll anwenden? Die in den nächsten Monaten folgenden Essays werden diese Fragen unter verschiedenen Aspekten behandeln. Die Darwinsche Theorie ist tatsächlich der geheime Schlüssel, um auch die modernen Ernährungsrätsel zu verstehen und lösen zu können. Hilfreicher als sich nach einseitigen Diätbüchern oder Ernährungsratgebern zu richten ist es, Darwins Werke auf den Tisch zu legen und sich seine Erkenntnisse zunutze zu machen. Die folgenden Beispiele werden exemplarisch zeigen, wie man dabei vorgehen kann.
Salz auf Tomaten und der Duft von frischem Brot
Denkt man an die Vorliebe für Salz in der eingangs geschilderten Restaurant-Szene, an den verführerischen Duft frisch gebackenen Brots oder daran, dass uns beim Anblick köstlicher Speisen buchstäblich das Wasser im Mund zusammen läuft, deutet sich das umfassende Zusammenspiel unserer Sinnesorgane bei der Nahrungsauswahl und -zubereitung an. Die Komplexität des Baus unserer Sinnesorgane und ihre aufwändigen Interaktionen weisen auf die große Bedeutung einer differenzierten Bewertung unserer Nahrungsquellen hin. Wir beurteilen Nahrung hauptsächlich nach ihrem Geschmack. Er wird über die Zunge in sechs Qualitäten wahrgenommen und liefert elementare Informationen: „Süß“ deutet auf eine schnell verwertbare Energiequelle, „salzig“ weist auf Kochsalz hin – einem für viele Stoffwechselprozesse wichtigen Stoff, den der Körper nicht speichern kann und durch Schwitzen ständig verliert, „bitter“ ist ein Indikator für möglicherweise ungenießbare oder giftige Stoffe, „sauer“ für unreife Früchte oder verdorbene Nahrungsmittel, „umami“ (würzig) zeigt proteinreiche Nahrungsquellen an und die erst vor wenigen Jahren nachgewiesenen Geschmacksrezeptoren für „fettig“ liefern den Hinweis auf besonders energiereiche Nahrungsmittel.
Die meisten Geschmackseindrücke werden aber nicht über die Zunge, sondern über die flüchtigen Aromastoffe vermittelt, die wir mit der Nase aufnehmen. Der Geruchssinn ist der älteste unserer Sinne, mit dem wir zwischen 5.000 und 10.000 Düfte unterscheiden können. Etwa drei Prozent unseres gesamten Genoms besteht aus Genen, die zur differenzierten Geruchswahrnehmung führen. Das sind etwa 1.000 Gene. So umfangreich dies auch erscheinen mag - im Vergleich mit vielen anderen Säugetieren haben wir jedoch einen eher reduzierten Geruchssinn – wir haben ihn gegen die besondere Fähigkeit des trichromatischen Farbensehens eingetauscht. Damit können wir sehr genau die Farbe und damit auch Frische und Qualität von Nahrungsmitteln beurteilen.
Eines ist klar: Wer nicht in der Lage ist, energie- und nährstoffreiche Nahrungsmittel von verdorbenen oder gar giftigen unterscheiden zu können, leidet im einfachsten Fall unter Mangelerscheinungen aufgrund falscher Nahrungsauswahl – oder stirbt sogar im Extremfall an giftigen Bestandteilen. Das heißt: Wir sind Nachkommen derjenigen Menschen, die in der Lage waren, die richtigen Nahrungsquellen auszuwählen. Lust- und Unlustgefühle regulieren die optimale Nahrungswahl – und das seit gut zwei Millionen Jahren Menschheitsentwicklung. Die Wahrnehmung von Vorlieben für bestimmte Lebensmittel oder Geschmacksrichtungen kann daher gar nicht überschätzt werden und ist mindestens so wichtig wie das kleine Einmaleins – leider gibt es ergänzend zum üblichen Schulunterricht noch keine „Genuss-Schule“, so dass es jedem derzeit selbst überlassen bleibt, dies privat bestmöglich zu trainieren.
Trostpflaster und Gute-Laune-Nahrung
Wie sehr aber auch der psychische Zustand die Wahl der Nahrungsmittel beeinflusst, zeigen aktuelle Erkenntnisse der evolutionären Psychologie: Unterschiedliche emotionale Zustände, z.B. Traurigkeit oder Feiern eines Erfolgs, führen oft zu einer spezifischen Wahl bestimmter Nahrungsmittelgruppen. D. h. die Aufnahme einzelner Nährstoffe wird nicht nur bestimmten körperlichen sondern auch unterschiedlichen emotionalen Anforderungen angepasst. Vor allem bei negativen Emotionen wie Angst, Traurigkeit oder Stress werden häufig Nahrungsquellen mit hohem Fett- und Zuckergehalt bevorzugt, z.B. Eiscreme oder Schokolade. Sie liefern einerseits über Fett und Zucker sehr viel und schnell verfügbare Energie, eine wichtige Voraussetzung, um Stresssituationen sofort bewältigen zu können – in unserer Vergangenheit üblicherweise als Flucht oder Kampf; heute wäre mindestens eine große Joggingrunde notwendig. Zusätzlich enthalten diese Nahrungsmittel oft weitere wichtige Substanzen, z.B. findet sich in Schokolade die Aminosäure Tryptophan, die als Grundgerüst für das Glückshormon Serotonin dient. Landläufig wird Schokoladenhunger in Stresssitutationen oft als „Frust-Fressen“ abgewertet – im Grunde ist es jedoch eine Erste-Hilfe-Maßnahme in einer emotional belastenden Situation – und ein wichtiger Hinweis darauf, dass ein für den Körper bedrohlicher Zustand vorliegt. Problematisch wird es, wenn diese Bedrohungssituation nicht als solche erkannt wird, und aus der Schokolade als Notfallmaßnahme eine Dauerstrategie wird, statt mittelfristig nach einer Auflösung der belastenden Lage zu suchen.
Bei positiven Gefühlen – etwa bei einer Belohnung für eine Anstrengung, das Feiern eines Erfolgs, etc. kann man ebenfalls eine selektive Wahl bestimmter Nahrungsmittel beobachten – allerdings mit eher wenigen Kalorien und hohem Proteinanteil (z.B. Steak). Proteine liefern Aminosäuren, die der Grundbaustoff der wichtigsten Neurotransmitter, unserer Botenstoffe im Gehirn, sind. Sie entfalten eine Anti-Stress-Wirkung, vermitteln Konzentrationsfähigkeit und Glücksgefühle oder wirken sogar als körpereigne Schmerzmittel oder als euphorisierende Substanzen. Übrigens hat das Tryptophan der Schokolade ebenfalls diese positive Wirkung.
Das so genannte „Mood Food“ oder die „Nahrung für die Seele“ sind also Nahrungsmittel, die den emotionalen Situationen und ihren spezifischen physiologischen Erfordernissen angepasst sind. Das spezifische und zugleich flexible Verlangen unseres Körpers nach bestimmten Nährstoffen ist ebenfalls in den letzten zwei Millionen Jahren entstanden, sichert den Nährstoffbedarf in den unterschiedlichsten Situationen (teilweise auch geschlechts- oder altersabhängig, während der Schwangerschaft, etc.) und damit das Überleben und Wohlergehen eines Organismus sowie seine reproduktive Fitness.
Heiße Getränke und soziale Wärme
Menschliche Ernährung zeigt zwei typische Charakteristika: Wir essen und trinken meist gemeinsam und sind die einzigen Lebewesen, die ihre Nahrung erhitzen. Diese beiden Merkmale scheinen zunächst unabhängig zu sein, werden aber interessanterweise emotional verknüpft. So konnte mehrfach gezeigt werden, dass physikalische Wärme z.B. in Form von heißem Essen und heißen Getränken auch einen Einfluss auf den Umgang mit anderen Menschen hat. Er spielt etwa bei dem ersten Eindruck, den wir von einer Person haben - und sogar ohne unsere bewusste Wahrnehmung - eine entscheidende Rolle. Die Einschätzung, dass diese Person freundlich, hilfsbereit und vertrauenswürdig ist, wird schon durch eine verhältnismäßig kurze Interaktion mit einer Wärmequelle (z.B. eine Tasse mit einem heißen Getränk) deutlich gesteigert.
Neurophysiologisch lässt sich zeigen, dass physikalische Wärme und Informationen, die bei psychologischer Wärme (Vertrauen) übermittelt werden, in der gleichen Region der Großhirnrinde verarbeitet werden. Evolutionsbiologisch ist dieser Effekt damit erklärbar, dass in der Phase der größten Hilflosigkeit, als Baby und Kleinkind, die Anwesenheit einer fürsorglichen Person, die Nähe und Wärme vermittelt, ein entscheidender Indikator für Sicherheit und damit für eine erhöhte Überlebenswahrscheinlichkeit ist. Physische Wärme und emotionale Zuwendung, die in dieser Zeit durch engen Körperkontakt vermittelt werden, prägen das Sicherheits- und Vertrauensempfinden. So bleiben auch im Erwachsenenalter unbewusst physische Wärme mit Vertrauenswürdigkeit und Hilfsbereitschaft verbunden, beispielsweise bei der Bewertung von Erstkontakten – wenn möglichst schnell entschieden werden muss, ob die unbekannte Person eher als Freund oder als Feind einzustufen ist.
So betrachtet ist es wohl kein Zufall, dass Gästen oft als erstes ein heißer Kaffee oder Tee angeboten wird. Auch Geschäftsessen, bei denen wichtige Verhandlungen geführt werden, finden interessanterweise häufig bei einem warmen Mittag- oder Abendessen statt – so gut wie nie wird zu einem Frühstücksbuffet mit Brötchen und Saft oder Müsli mit kalter Milch eingeladen. Dass bei der Bewirtung von Gästen und beim Ablauf von Geschäftsessen weitere Komponenten als die Wärme der Speisen und Getränke eine wichtige Rolle spielen, versteht sich von selbst – aber mit dem Wissen zur Bedeutung der Wärmeempfindung bei sozialen Kontakten lässt sich die Gestaltung eines wichtigen Treffens erfolgreicher umsetzen. Menschen sind die einzigen Organismen, die ihre Nahrung erhitzen – neben der besseren Aufnahmefähigkeit und dem Erschließen neuer Nahrungsquellen, die in rohem Zustand giftig oder ungenießbar sind – hat das Erwärmen von Speisen und Getränken offensichtlich eine weitere Funktion und eine bislang vielleicht unterschätzte Rolle in der Evolution der Menschen als soziale Gruppe.
Nach Lust und Laune essen!
Nimmt man die aktuellen biologischen und psychologischen Forschungsergebnisse im Zusammenhang mit der Darwinschen Theorie ernst, so ist klar: Nahrung ist deutlich mehr als reine Energie- und Nährstoffaufnahme. Es werden zusätzlich auch wichtige emotionale und soziale Bedürfnisse erfüllt, die das Überleben und Wohlergehen eines Individuums genauso sicherstellen wie die soziale Interaktion innerhalb der Gruppe. Wir verfügen über ein ausgefeiltes Sensorium für die richtige Nahrungs- und Getränkewahl, das sich in mehr als zwei Millionen Jahren Menschheitsentwicklung herausgebildet hat. Wir wissen im Grunde also instinktiv in jeder Situation sehr genau, was wir essen und trinken sollten, da die Fähigkeit zur richtigen Auswahl über einen sehr langen Zeitraum selektiert wurde. Auf diesen Erfahrungsschatz, d.h. unsere eigenen Sinne, Gelüste und Launen beim Essen und Trinken können wir uns daher sehr gut verlassen und leben damit in der Regel sicherlich gesünder, lustvoller und unseren Bedürfnissen mehr entsprechend, als wenn man modischen Ernährungsratgebern und -empfehlungen glaubt. In welchen Situationen und warum dies aber auch aus dem Ruder laufen kann, behandelt der im Februar folgende Essay „Warum wir Hamburger und Pommes lieben“.
© Dr. Sabine Paul, Frankfurt/Main, 01.01.2009
Text modifiziert nach dem Kapitel „Steak und Schokolade“ in: Der Darwin-Code: Die Evolution erklärt unser Leben, Thomas Junker & Sabine Paul, C.H.Beck Verlag, München, 2009
Literatur:
Dubé, L., J.L. LeBel, J. Lu. 2005. Affect asymmetry and comfort food consumption. Physiology & Behavior 86:559-567
Junker, T., S. Paul. Der Darwin-Code: Die Evolution erklärt unser Leben. C.H.Beck Verlag, München, 2009
Shubin, N.. Der Fisch in uns: Eine Reise durch die 3,5 Milliarden Jahre alte Geschichte unseres Körpers. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2008
Williams, L.E., J.A. Bargh. 2008. Experiencing physical warmth promotes interpersonal warmth. Science 322:606-607
Links:
[1] http://www.darwin-jahr.de/sites/darwin-jahr.de/files/story/node-147-153.JPG
[2] http://www.darwin-code.de/index.html