Evolution | 08.12.2008
Darwin entschlüsselt das Geheimnis der Geheimnisse
Vor genau 150 Jahren, im November 1859, nahm eine wissenschaftliche und weltanschauliche Revolution ihren Anfang, über deren Ursachen und Folgen bis heute leidenschaftlich gestritten wird.
Ausgelöst wurde sie durch ein Buch des englischen Naturforschers Charles Darwin: On the origin of species by means of natural selection (Über die Entstehung der Arten durch natürliche Auslese). Es gab die erste wissenschaftlich überzeugende Antwort auf eine der großen Menschheitsfragen: Warum gibt es Pflanzen, Tiere und Menschen? Wie lassen sich ihre Eigenschaften auf natürliche Weise erklären? Damit wurden einige der auffälligsten und zugleich rätselhaftesten Phänomene der Natur, die sich der biologischen Forschung über Jahrhunderte hinweg hartnäckig entzogen hatten, wissenschaftlich verstehbar.
Das Geheimnis der Geheimnisse
Darwin war sich sicher, dieses „Geheimnis der Geheimnisse“ gelüftet zu haben, seine Argumente überzeugten viele seiner Zeitgenossen und sie haben seither allen kritischen Überprüfungen standgehalten.
Darwins Lösung des Rätsels war verblüffend einfach: Die unterschiedlichen Arten von Lebewesen stammen von gemeinsamen Vorfahren ab, die sich durch einen natürlichen Mechanismus aus Variation und Selektion allmählich in verschiedene Richtungen entwickelt haben. Er nannte diesen Vorgang „Abstammung mit Abänderung“ („descent with modification“). Im Laufe der Zeit setzte sich das prägnantere Wort ‚Evolution’ durch, aber Darwins grundlegende Idee blieb unangetastet. Heute ist die Evolution eine Tatsache – so wie es eine Tatsache ist, dass sich die Erde um die Sonne dreht oder dass die ägyptischen Pyramiden vor mehr als 4000 Jahren erbaut wurden. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist auch Darwins Evolutionsmechanismus aus Variation und Selektion, seine berühmte Theorie der natürlichen Auslese, in ihrer modernisierten Form konkurrenzlos.
Auf den Schultern von Riesen
Darwins Theorie war nicht der erste Versuch, die Entstehung der biologischen Arten zu erklären, und sie war nicht die erste natürliche Erklärung. Bereits fünfzig Jahre zuvor, im Geburtsjahr Darwins, hatte der französische Naturforscher Jean-Baptiste de Lamarck (1744-1829) eine Evolutionstheorie im Sinne einer allmählichen und unbegrenzten Umgestaltung von Arten vorgelegt (Philosophie Zoologique, 1809). Lamarck hatte auch bereits einen Mechanismus für die Entstehung zweckmäßiger Eigenschaften der Organismen. Er vermutete, dass es zu Anpassungen kommt, wenn Veränderungen der Umwelt neue Bedürfnisse bei den Tieren erwecken und neue Tätigkeiten notwendig machen. Dies wiederum soll die Entstehung neuer Organe anregen oder vorhandene Organe umgestalten. Bei Pflanzen soll es nach Abweichungen in der Ernährung, beim Licht, der Wärme oder Feuchtigkeit direkt zu evolutionärem Wandel kommen. Lamarck zufolge entstehen zweckmäßige Eigenschaften also, weil Organismen anatomisch und physiologisch sinnvoll auf ihre Umwelt reagieren können, sich an diese ‚anpassen’ und die so entstandenen Anpassungen dann erblich werden (Vererbung erworbener Eigenschaften).
Ein anderes zentrales Element der modernen Evolutionstheorie, die gemeinsame Abstammung der Organismen, wurde schon Mitte des 18. Jahrhunderts als Erklärung für die auffälligen Übereinstimmungen im Körperbau vieler Tiere (für den gemeinsamen ‚Bauplan’) diskutiert. So hatte Georges Buffon (1707-1788), einer der berühmtesten Naturforscher des 18. Jahrhunderts, darüber spekuliert, ob die „verborgenen Ähnlichkeiten“ dadurch entstanden seien, dass „alle Tiere von einem einzigen Tier hergekommen seien, das im Laufe der Zeit, durch Vervollkommnung und Entartung, alle Rassen der anderen Tiere hervorgebracht“ habe. Und schließlich gab es seit der Antike Versuche, die Entstehung der Lebewesen auf natürliche Weise durch Urzeugung zu erklären. So glaubte der aus der Schule der Epikureer stammende römische Dichter und Philosoph Lukrez (97-55 v.u.Z.), dass die biologischen Arten „auf ganz natürliche Weise“ entstanden seien, „indem „Urkörper sich von allein und zufällig trafen, vielfältig, blindlings, unnütz, vergeblich zusammen sich ballten, schließlich nach jäher Vereinigung miteinander verwuchsen“. Urzeugungstheorien wurden bis ins 19. Jahrhundert vertreten und erst durch Darwins Evolutionstheorie ersetzt.
Warum Darwin?
Darwins Origin of Species war also nicht der erste Versuch, die Entstehung der Arten auf natürliche Weise zu erklären, aber es war das erste als überzeugend empfundene Modell. Warum war Darwin erfolgreich, während seine weniger glücklichen Vorläufer scheiterten? Wichtige Voraussetzungen waren die Fortschritte der Biologie und der Geologie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aber auch der Siegeszug der liberalen Wirtschaftsordnung, der es psychologisch leichter machte, die analoge Wirkungsweise der natürlichen Auslese nachzuvollziehen. Letztlich entscheidend waren aber die innere Konsistenz und der empirische Gehalt seiner Argumente sowie die Überlegenheit der Selektionstheorie gegenüber früheren kausalen Erklärungen.
Die natürliche Auslese
Darwin löste sich nicht völlig von den historischen Vorbildern – auch er akzeptierte die Vererbung erworbener Eigenschaften als evolutionären Faktor –, seine eigentliche Argumentation ging aber in eine andere Richtung. Zweckmäßige Variationen können durch unterschiedliche Ursachen entstehen, aber durch die natürliche Auslese bleiben sie erhalten und werden angehäuft: „Die natürliche Auslese kann nur durch die Erhaltung und Anhäufung von unendlich kleinen vererbten Abänderungen wirken, von denen jede für das erhaltene Lebewesen von Vorteil ist”. Im Laufe der Generationen werden sich so nützliche Eigenschaften verbreiten, schädliche dagegen werden seltener:
„Wegen dieses Kampfes ums Leben wird jede Variation, wie geringfügig und durch welche Ursache sie auch entstanden sein mag, wenn sie in irgendeinem Grade nützlich für ein Individuum irgendeiner Art in seinen unendlich komplexen Beziehungen zu anderen Lebewesen und zur äußeren Natur ist, dazu tendieren, dieses Individuum zu erhalten und im Allgemeinen von seinen Nachkommen ererbt werden. […] Ich habe dieses Prinzip, durch das jede geringfügige Abänderung erhalten wird, wenn sie nützlich ist, mit dem Namen ‚natürliche Auslese’ bezeichnet“.
Wie Darwin betont, geht es in diesem Zusammenhang um die Nützlichkeit eines Merkmals in Bezug auf das Wohlergehen, Überleben und die erfolgreiche Fortpflanzung der einzelnen Individuen.
Die Erklärung der biologischen Zweckmäßigkeit
Die natürliche Auslese ermöglichte Darwin eine neue und überraschende Antwort auf das alte Rätsel der Zweckmäßigkeit der Organismen und ihrer Körperteile: „Da jedes Werkzeug seinen Zweck hat und ebenso jedes Glied des Körpers, dieser Zweck aber in einer Verrichtung besteht, so ist klar, dass auch der ganze Leib als Zweck eine umfassende Tätigkeit hat“ (Aristoteles, De partibus animalium). Jede Theorie über die Entstehung der Lebewesen muss eine Aussage über dieses typische und zentrale Charakteristikum der biologischen Phänomene machen, wenn sie ihrem Gegenstand gerecht werden will. Es genügt nicht, wie der Zoologe Richard Hertwig Anfang des 20. Jahrhunderts bemerkte, „die Umbildungen [bzw. die Entstehung] der Organismen zu erklären; es muß vielmehr weiter im Auge behalten werden, daß diese Umbildungen [bzw. diese Ursprünge] zu einer zweckmäßigen Anpassung des Organismus an seine Umgebung führen; es muß zugleich diese zweckmäßige Anpassung erklärt werden“. Die beiden traditionellen Konzepte, die von der unabhängigen Entstehung und Unveränderlichkeit der Arten ausgegangen waren, d.h. die religiösen Schöpfungslehren und die naturalistischen Urzeugungstheorien, hatten hier nur ausweichende bzw. vage Antworten geben können. Erst Lamarck hatte einen zwar unzutreffenden, aber nicht völlig unplausiblen Mechanismus vorgelegt.
Die ‘Allmacht der Naturzüchtung’
Darwin erklärte nicht nur, warum Organismen (auch) zweckmäßige Eigenschaften haben, sondern konsequent weitergeführt impliziert sein Modell, dass alle ihre Eigenschaften zweckmäßig sein müssten. Diesen Schluss hat Darwin in der Tat gezogen. Er sprach in diesem Zusammenhang von der ‚utilitarian doctrine’; im Deutschen wurde daraus die ‚Nützlichkeitstheorie’. Sie besagt, dass „jede Einzelheit der Struktur für das Wohl ihres Besitzers erzeugt wurde”. Und sie ermöglicht eine neue Sichtweise auf die Organismen und ihre Merkmale: „Folglich kann man von jeder Einzelheit der Struktur in jedem lebenden Geschöpf (außer einigen geringen Zugeständnissen an die direkte Wirkung der physischen Bedingungen) annehmen, dass sie entweder von besonderem Nutzen für einen Vorfahren war oder dass sie jetzt von besonderem Nutzen für die Nachkommen dieser Form ist, entweder direkt oder indirekt durch die komplexen Gesetze des Wachstums“.
Wenn Darwin mit seiner These recht hat, dann muss man davon ausgehen, dass es sich bei jeder beliebigen erblichen Eigenschaft, die man bei einem Menschen, einem anderen Tier, einer Pflanze, einem Bakterium beobachtet, mit großer Wahrscheinlichkeit um eine Anpassung handelt oder gehandelt hat. Mangelnde Anpassung dagegen ist seltener und erklärungsbedürftig, da ihre Träger nicht oder weniger gut überleben und sich fortpflanzen. Vor allem bei energieaufwändigen und komplexen Merkmalen kann man davon ausgehen, dass es sich um Anpassungen handelt, da sie hohen Einsatz erfordern und von Krankheiten oder Entwicklungsstörungen betroffen sein können. Darwins These, dass alle biologischen Merkmale – jetzt oder in der Vergangenheit, direkt oder indirekt – von Nutzen für ihre Träger sind oder waren, blieb nicht unwidersprochen und führt noch heute zu hitzigen Debatten über die Reichweite des ‚adaptationist programme’ und die ‚Allmacht der Naturzüchtung’ (Weismann 1893).
Bis heute definiert sich die Evolutionsbiologie auch durch den Verweis auf ihren Begründer – Charles Darwin. Und dies trotz teilweise recht weitgehender Veränderungen an seinem ursprünglichem Modell, denn Darwins zentrale These, die er auch im Titel seines Hauptwerkes formulierte, hat überlebt, da nur auf diese Weise die Anpassungen der Organismen an die belebte und unbelebte Umwelt zufriedenstellend erklären werden können: Über die Entstehung (und die Evolution) der Arten durch natürliche Auslese.
© Thomas Junker. Verändert nach „Charles Darwin und die Darwinsche Revolution,“ Praxis der Naturwissenschaften - Biologie in der Schule“ (November 2008).
Links:
[1] http://www.darwin-jahr.de/sites/darwin-jahr.de/files/story/node-113-44.jpg