Rezension | 05.12.2008
Rüdiger Vaas rezensiert "Konzepte der Biologie" von Ernst Mayr.
Hintergrund
„Die Früchte vom Baum der Erkenntnis sind es immer noch wert, dafür das Paradies zu verlieren“ , hat der Biologe und Wegbereiter des Evolutionsgedankens in Deutschland, Ernst Haeckel, einmal geschrieben. Ein solcher Meilenstein in der Geschichte der Naturerkenntnis ereignete sich am 24. November 1859, als der Naturforscher Charles Robert Darwin ein knapp 500 Seiten starkes Buch mit dem umständlichen Titel „On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life“ veröffentlichte.
Allein in England sind im ersten Jahr rund 3800 Exemplare abgesetzt worden und bis 1876 ungefähr 16 000 – in kaum einer Bibliothek der Gebildeten fehlte das Werk. „Kein anderes Buch außer der Bibel hatte stärkeren Einfluss auf das moderne Denken“, kommentierte der Evolutionsbiologe Ernst Mayr diese Initialzündung der modernen Evolutionstheorie. „Fast alles, was heutige Menschen glauben, ist in der einen oder anderen Weise von Darwins gedanklichen Neuerungen betroffen. Das Denken der gesamten modernen westlichen Welt ist zutiefst von Darwins Philosophie geprägt.“
Ein paar Stichwörter müssen hier genügen: Etablierung der säkularen Wissenschaft; Ablehnung übernatürlicher Erklärungen und somit eines Schöpfergottes; Zurückweisung vorherrschender Denkungsarten wie Platonismus und Essentialismus (Arten und Variationen sind keine zeitlose, unveränderliche, klar abgegrenzte Wesenheiten oder Typen – weswegen übrigens auch der Rassismus keine biologische Grundlage haben kann), Finalismus und Teleologie (es gibt keine Richtung, keine Absicht und kein Ziel der Evolution und in der Natur); Betonung der Rolle des Zufalls und der Geschichtlichkeit sowie einer methodischen Einschränkung des umfassenden Erklärungsanspruchs der Physik. Fest steht, dass die Evolutionstheorie eine Revolution in der Biologie und für unser Welt- und Menschenbild bedeutet. Entsprechend stark waren – und sind teilweise noch – die weltanschaulichen, überwiegend religiös motivierten Widerstände.
Freilich hat Darwin den Evolutionsgedanken weder als erster vertreten, noch ihn vollständig ausgeführt. Vor allem die damals erst im Entstehen begriffene Genetik fehlte ihm als wichtiger Baustein der Theorie. Und so dauerte es bis in die 1930er bis 1940er Jahre, bis die moderne Synthetische Evolutionstheorie entstand – so genannt aufgrund der Synthese vieler Befunde aus unterschiedlichen Disziplinen (Paläontologie, Biogeographie, Ökologie, Embryologie, Genetik, Systematik, vergleichende Anatomie, Geologie...). Die Architekten dieses bis heute intakten Gebäudes der modernen Evolutionstheorie waren Theodosius Dobzhansky, Ronald Fisher, John Burdon Sanderson Haldane, Julian Huxley, Bernhard Rensch, George Gaylord Simpson, G. Ledyard Stebbins, Sewall Wright und Ernst Mayr, der 2005 im Alter von 101 Jahren verstarb.
Das Buch
Der aus Deutschland stammende Zoologe war bis zu seiner Emeritierung 1975 Professor an der Harvard University und Direktor am Museum of Comparative Zoology. Er hat mehr als 700 Fachpublikationen und über 20 Bücher verfasst und wurde mehrfach "Darwin des 20. Jahrhunderts" genannt. Anlässlich seines 100. Geburtstags hat er, quasi als eigene "Festschrift", noch einmal eine Sammlung von aktualisierten und neuen Essays veröffentlicht. Themen sind die Geschichte der Evolutionstheorie (oder eigentlich von Darwins fünf Theorien, wie Mayr ausführt), die Beiträge der Philosophie zur Biologie und umgekehrt, die Autonomie der Biologie, zentrale Begriffe und ihre Probleme sowie anthropologische Aspekten und die Frage nach außerirdischem Leben.
Von Susanne Warmuth exzellent übersetzt sind die Essays nun auch auf deutsch erschienen und bestechen durch ihre vorbildliche gedankliche und stilistische Klarheit und Eleganz. Das Buch ist ein intellektueller Genuss, leicht lesbar und doch nicht oberflächlich oder populistisch. Biologen, Philosophen und Wissenschaftshistoriker werden es mit großem Gewinn lesen – und sollten das auch tun –, ebenso aber jeder Laie, der sich für konzeptuelle und historische Fragen der Biologie allgemein und der Evolutionstheorie im Besonderen interessiert. Zum einen gibt es kaum ein spannenderes, faszinierenderes Thema, zum anderen aber sind noch immer viele Missverständnisse und auch echte offene Fragen mit der biologischen Evolution verbunden. Und zwar sowohl konzeptuell wie auch inhaltlich.
So wird nach wie vor kontrovers diskutiert, was genau der Gegenstand der Selektion ist (Art, Population, Gruppe, „extended phenotype“, Individuum, Genfrequenzen, Gen). Die grundlegenden Begriffe „Art“ und „Anpassung“ sind ebenfalls umstritten (gerade auf den Artbegriff kommt Mayr, der hierzu wichtige Beiträge geleistet hat, wieder und wieder zurück). Die Mechanismen der Artbildung sind noch nicht vollständig bekannt, von den Antworten auf zahlreiche Einzelfragen ganz abgesehen (etwa die genetischen Ursachen der Artbildung, die Bedeutung der nichtcodierenden DNA und der Neutralmutationen).
Sicherlich ist auch Mayrs Buch hier nicht das letzte Wort. Er selbst räumt frühere Fehler ein und weist auf verbleibende Schwierigkeiten hin. Und bedauert, dass er nicht dabei sein kann, sich „an den zukünftigen Entdeckungen zu erfreuen“. Auch sind einige aktuelle Debatten unterrepräsentiert, etwa Aspekte der Soziobiologie oder der Genetik, und manche Begriffe („Reduktion“ und „Reduktionismus“, „Naturgesetz“, „Determinismus“, „Zufall“) verwendet Mayr so unscharf, dass seine im Prinzip durchaus berechtigte Kritik an bestimmten wissenschaftstheoretischen Positionen zu undifferenziert und mitunter etwas unfair ausfällt.
Das ändert aber nichts an der Wichtigkeit seiner generellen Stoßrichtung, die Biologie als autonome und besondere Wissenschaft gegen falsche physikalistische und auch metaphysische Vereinnahmungsversuche zu verteidigen. Gerade ihr geschichtlicher Aspekt – und somit die Rolle der Randbedingungen – ist hier entscheidend, ebenso die Einzigartigkeit jedes Organismus. Beides ist noch viel zu wenig reflektiert worden. Auch Mayrs Analysen der „Teleologie“ sollten breite Berücksichtigung finden. Das Buch ist also weit mehr als eine Reminiszenz oder das Statement eines alten Mannes. Bücher einer solchen intellektuellen Brillanz findet man selten.
Rüdiger Vaas
Hirzel, Stuttgart. 247 S. Preis: 32,00 €. ISBN: 9783777613727
Diese Rezension ist zuerst erschienen in: Universitas Bd. 61, Nr. 725, S. 1186-1188 (11/2006).
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