Soziologie | 06.11.2010
Gläubige Menschen haben im Durchschnitt mehr Kinder als nichtgläubige. Die Frage ist nur, warum. Der Religionsforscher Michael Blume geht davon aus, dass der Glaube an außerempirische Akteure (z.B. Götter) einen Selektionsvorteil biete. Eine neue Studie weist in eine andere Richtung.
Religion ermutigt traditionelle, anstelle von modernen Erziehungsmodellen. Die traditionelle Rolle der Frau besteht darin, zu Hause zu bleiben und die Kinder aufzuziehen, während ihr Mann eine Karriere verfolgt und die Unabhängigkeit und das Geld, die mit dieser verbunden sind. Scheidung ist nicht erlaubt und wird gesellschaftlich geächtet, also können Frauen auch nicht finanziell hilflos dastehen. Jedenfalls in der Theorie.
Frauen, die einen moderneren, unabhängigeren Lebensstil verfolgen, müssen mehrere miteinander wettstreitende Bedürfnisse ausbalancieren. Sie müssen Zeit in ihre eigene Karriere investieren und sie müssen sich gegen die finanziellen Folgen einer Scheidung absichern. Da keine sozialen Strukturen gegeben sind, die ihnen diese Sicherheit garantieren, werden sie weniger Zeit haben, um Kinder aufzuziehen.
Könnte dies hinter der geringeren Fertilität der weniger Religiösen stehen? Um es herauszufinden, hat sich Caroline Berghammer vom Wiener Institut für Demografie die Daten der Österreichischen Untersuchung zu Generationen und Geschlechtern [2] angesehen. Diese umfassen 1250 Männer und Frauen zwischen 40 und 45 Jahren, also gegen Ende ihrer reproduktiven Karriere.
Für jedes Individuum wurden die Daten von Schlüsselereignissen in ihrem Leben festgehalten – die Zeiträume, in denen sie mit einem Partner zusammenlebten, wann sie heirateten, wann sie jedes Kind bekommen haben und wann sie sich scheiden ließen.
Mit Hilfe dieser Daten konnte Berghammer die „Lebenskurve“ jedes Individuums definieren. Einige Beispiele sieht man im folgenden Graphen von Berghammer:
Die obere Reihe beschreibt den Lebensweg von jemandem, der Single war bis zum Alter von 23 Jahren, dann für ein Jahr mit jemandem zusammenlebte, bevor er heiratete. Nach einem Jahr Ehe hatten sie ihr erstes Kind und ein paar Jahre später ihr zweites und letztes Kind. Diese Sequenz war die häufigste Lebenskurve, die von 12% der Untersuchten befolgt wurde.
Die zweite Reihe beschreibt ein Individuum, das Single und kinderlos geblieben ist. Die dritte ein Individuum, das direkt heiratete ohne vorangehendes Zusammenleben.
Natürlich ist die Lebenskurve von jedem Individuum anders. Aber gewisse Muster zeigten sich und so war Berghammer in der Lage, jedes Individuum einer der verschiedenen „typischen“ Lebenskurven zuzuordnen.
Die wichtigsten davon waren das „moderne“ Leben (ein Zeitraum des Zusammenlebens vor der Heirat, aber Kinder nach der Heirat) und das „traditionelle“ (Heirat ohne vorheriges Zusammenleben).
Berghammer fand heraus, dass Menschen, die dem „traditionellen“ Lebensstil folgten, mit höherer Wahrscheinlichkeit drei Kinder und mehr hatten als jene, die dem „modernen“ Lebensstil folgten. Außerdem waren traditionalistische Individuen mit höherer Wahrscheinlichkeit religiös (in dieser Analyse alle katholisch).
Religiosität ist nicht der Grund
Aber – und das ist der entscheidende Teil – es gab bei jenen, die einen traditionellen Lebensweg gingen, keinen Zusammenhang zwischen der Stärke des religiösen Glaubens oder der Häufigkeit des Kirchgangs mit der Kinderzahl, die sie hatten.
Genau dasselbe war für jene zu beobachten, die einen modernen Lebensweg verfolgten. Dieser war zwar beliebter unter nicht-religiösen Frauen, aber religiöse Frauen, die dieser Lebenskurve zuzuordnen waren, hatten nicht mehr Kinder als die nicht-religiösen.
Es gab auch keinen Unterschied zwischen Religiösen und Nicht-Religiösen, was die Wahrscheinlichkeit angeht, Single und kinderlos zu bleiben.
Berghammer schließt daraus, dass der entscheidende Faktor zur Bestimmung der Fertilität die Wahl der Lebenskurve ist. Sobald diese gewählt wurde, hat Religiosität keinen weiteren Effekt auf die Fertilität.
Dies erklärt, warum religiöse Österreicher mehr Kinder haben. Es liegt daran, dass sie mit höherer Wahrscheinlichkeit die traditionellen Rollen spielen, in denen Frauen Kinderaufzucht über Unabhängigkeit stellen.
Die traditionelle Familie ist der Grund
Demnach wäre eine konservative Einstellung gegenüber Ehe und Kindern der Grund dafür, warum Gläubige mehr Kinder haben als liberale Atheisten. Nun können Liberale entweder die traditionelle Haltung in dieser Frage übernehmen, oder sie müssen einen Weg finden, wie sie ihren modernen Lebensweg mit Kinderreichtum verbinden können.
Kinder sind eine große Investition, die gerade dann viel Vertrauen erfordert, wenn sich Paare ohne lange Kennenlernzeit für sie entscheiden. Es ist kaum zu sehen, wie Liberale mit ihren aktuellen Modellen wie Patchworkfamilien dagegen ankommen wollen. Ob es möglich ist, viele Kinder aufzuziehen, wenn beide Partner arbeiten und sich die Arbeit mit der Kinderaufzucht irgendwie teilen, vielleicht wenn sie obendrein Gebrauch von Ganztagsschulen und Kinderkrippen machen, ist schwer zu sagen. In Ländern wie Frankreich und in den skandinavischen Ländern funktioniert das mit einem Maximum an staatlicher Förderung gerade so und auch nicht vollkommen erfolgreich, da auch dort Konservative und insbesondere in Parallelgesellschaften lebende Fundamentalisten mehr Kinder haben als Liberale.
Warum ist das überhaupt wichtig? Weil das hier geschehen könnte [3], wenn liberale Gläubige und Atheisten nicht gegensteuern. Außerdem muss eine Gesellschaft so gestaltet sein, dass sie sich selbst erhalten kann. Die Komplexität der modernen Zivilisation erfordert ein hohes Maß an Arbeitsteilung. Das demografische Problem in Deutschland läuft auf ein Mangelangebot an qualifizierten Arbeitskräften hinaus, welche die moderne Welt am Laufen halten könnten, etwas, das gerade im Interesse liberaler Atheisten liegen sollte.
Wenigstens ist der Glaube an Gott offenbar selbst kein Selektionsvorteil und somit auch nicht direkt in der menschlichen Natur verankert.
AM
Quellen: Epiphenomenon [4]
Berghammer, C. (2010). Family Life Trajectories and
Religiosity in Austria European Sociological Review DOI: 10.1093/esr/jcq052 [5]
Links:
[1] http://www.darwin-jahr.de/sites/darwin-jahr.de/files/story/node-497-896.jpg
[2] http://www.oeaw.ac.at/vid/staff/staff_buber-ennsers_publications.shtml
[3] http://www.darwin-jahr.de/../../../../../../../evo-magazin/werden-fanatiker-zivilisation-einnehmen
[4] http://epiphenom.fieldofscience.com/2010/11/why-religious-austrians-have-more.html
[5] http://dx.doi.org/10.1093/esr/jcq052