Mythologie | 02.01.2009
Die Sumerer bewohnten den Süden des von Tigris und Euphrat gebildeten Schwemmlands im Gebiet des heutigen Irak. Sie betrieben Landwirtschaft auf künstlich bewässerten Feldern und Viehzucht, welche die materielle Grundlage bildeten für die ersten bekannten Städte. Ihre Keilschrift, um 3200 v. Chr. entwickelt, ist die älteste Schrift der Menschheit, ihre Hochkultur, die bereits frühe Formen der Mathematik, Astronomie und Literatur kannte, ist ebenso die älteste, auf die wir bislang gestoßen sind. Ihre Sprache ist mit keiner anderen verwandt und wir wissen nicht, woher die Sumerer ursprünglich kamen.
Der Großteil der sumerischen Keilschrifttafeln entstand ab der Dritten Dynastie von Ur (2113-2004 v. Chr.). Die Sumerer benutzten die Schrift überwiegend für Berechnungen ihrer Wassergräben, für die Auflistung von Schulden, die Vermessung von Land und für andere pragmatische Zwecke. Doch im Laufe der Zeit entschieden sich Schreiber, Lehrer und vor allem die sumerische Priesterklasse, die mündlich überlieferten und in zahlreichen Variationen erzählten Göttergeschichten in Stein zu meißeln, sie dabei ihren eigenen Vorstellungen anzupassen und einige selbst zu erfinden.
Da uns die sumerische Sprache so fremd ist, haben wir Probleme damit, diese Geschichten zu übersetzen, zudem sind sie nur bruchstückhaft überliefert. Eine besonders wichtige Geschichte ist zweifellos das Gilgamesh-Epos [2], aus dem die Autoren des Alten Testaments später die Sintflut-Erzählung rund um Noah übernehmen [3] sollten. Es ist das erste literarische Werk der Menschheitsgeschichte.
Götter für jede Gelegenheit
Die sumerische Religion kennt Urgötter, Hauptgötter und Stadtgötter. Die Urgötter gehören zum festen Kanon des sumerischen Götterhimmels, die Stadtgötter befinden sich im Wettstreit miteinander und werden immer wieder einmal durch einen Nachfolger oder Konkurrenten abgelöst, was reale Geschehnisse um die Stadtkönige widerspiegelt. Die Götter nehmen alle einen Platz im sumerischen Pantheon ein. Ihr Haushalt weist bemerkenswerte Ähnlichkeiten auf mit den Lebensverhältnissen der Mythen-Autoren: Die Götter wohnen in ihren jeweiligen Tempelbezirken zusammen mit ihrer Frau, ihren Kindern und Dienern. Ein Bild oder eine Statue repräsentiert sie.
Insgesamt kann man feststellen, dass die sumerischen Mythen versuchen zu erklären, woher die Institutionen, Gebräuche und Rituale der Sumerer kommen. Gleichzeitig werden sie auf diese Weise legitimiert. An den Mythen wird deutlich, dass sie Produkt einer bürokratischen und hierarchischen Gesellschaft sind, die sich häufig mit landwirtschaftlichen Problemen herumschlagen musste. Ebenso behandeln sie die Grundfragen der Menschheit und ihre großen Themen wie Liebe, Freundschaft, Krieg und Tod.
Im Anfang
Wer sich schon einmal gefragt hat, wie der Gott des Alten Testaments auf die Idee gekommen ist, die Wasser zu spalten (dem biblischen Weltbild zufolge fließt über dem Himmel ein Ozean und ein anderer unter der Erde) und die Ausdehnung „Himmel“ zu nennen: Der Gedanke stammt [4] vom sumerischen „Lob der Hacke“, wo dieses landwirtschaftliche Werkzeug ausführlich gepriesen wird. Dort heißt es: „Der Herr, dessen Entscheidungen unabänderlich sind, Enlil, beeilte sich, den Himmel von der Erde zu trennen“.
Von den Sumerern wird zudem die Unfruchtbarkeit der Ur-Erde erwähnt [5], die erst durch den Gott Enki landwirtschaftlich nutzbar gemacht wird. Enki ist der Sohn des Himmelsgottes An und der Göttin des Wassers und der Schöpfung, Nammu. Als Göttin des Urmeeres („Wassers“) erschuf Nammu ursprünglich ihren späteren Mann An und die Erdgöttin Urasch. Da Enlil sie später trennte, müssen Erde und Himmel, An und Urasch, am Anfang aufeinander gelegen haben, vielleicht beim Paarungsakt, wie es sich später die alten Griechen vorstellten.
Enki, der Star am Götterhimmel
Enki lebt dem Mythos nach im unterirdischen Urgewässer Apsu, der Quelle des Lebens und der fruchtbaren Böden. Die sumerischen Bauern wandten sich stets mit magischen Ritualen (heute bekannt als „Beten“) an ihn, wenn das Wasser knapp wurde.
Enki führt keine Kriege – wahrscheinlich, weil er keine Lust dazu hat. Seine Vorliebe für Bier, Frauen und einen langen Schlaf sind nämlich berüchtigt im ganzen Schwemmland. Dieser Hedonismus wird kurzerhand zur Ursache sämtlicher Probleme erklärt. Wenn es zum Beispiel nicht genügend regnete, dann nur, weil Enki faul im Bett lag und mal wieder nichts mitbekam. Trotz oder aufgrund seiner lässigen Haltung gehört Enki allerdings zu den großen Stars des sumerischen Pantheons und ist der Held einer ganzen Reihe an Mythen.
Alles wie immer
Menschen gibt es am Anfang noch nicht. Trotzdem muss bereits jemand Landwirtschaft betrieben haben („war ja schon immer so“) und wer käme dafür eher in Frage als die Götter? Die Sumerer stellten sich also vor, dass einige Götter zu Urzeiten Körbe mit Wasser herumtrugen, um die Felder zu versorgen, während sich andere Götter als ihre Aufseher betätigten. Die Arbeit ist den Göttern jedoch bald eine Last, also wenden sie sich mit ihren Nöten an Enki, der überhaupt nicht arbeitet, sondern mal wieder den ganzen Tag durchschläft. Endlich weckt ihn seine Mutter Nammu auf und rät ihm, den Göttern eine Hilfe zu erschaffen. Diese Hilfe würde durch Opfergaben aus ihrem Anbau in Zukunft die Götter ernähren.
Die Erschaffung des Menschen
Wie zu erwarten hat er aber keine Lust dazu und überlässt seiner Mutter Nammu diese Aufgabe, allerdings nicht, ohne ihre eine Bauanleitung zu geben. Zusammen mit der Göttin Ninmah formt Nammu den Menschen aus dem Schlamm des Urgewässers Apsu, genau wie der biblische Gott Yahwe den Menschen später aus Lehm kneten sollte. Von nun an würde der Mensch hart arbeiten müssen und die Götter könnten sich endlich ausruhen. Enki wird für diese Idee von den anderen Göttern gefeiert und bei der Party ist er natürlich dabei. Er leert zusammen mit Ninmah ein paar gut gefüllte Bierkrüge und schließlich kommen die beiden in ihrer Trunkenheit auf den Gedanken, einen Wettstreit auszutragen: Eine Gottheit erschafft ein Wesen und die andere bestimmt seine gesellschaftliche Rolle.
Ninmah beginnt und erschafft sechs Menschen, die alle körperliche Behinderungen haben. Enki macht sie zu Dienern des Königs und der Königin. Nun erschafft Enki selbst ein menschliches Wesen, aber es ist stimmlos, kann nicht sitzen, laufen, stehen oder essen. Ninmah ist wütend auf Enki und verbannt ihn in den Apsu, wo er endlich wieder durchschlafen kann.
Bibelkundige werden eine markante Zeile dieser Geschichte wiedererkennen [6]. Bei ihrem Trinkgelage sagt Enki zu Ninmah, er habe ihren Menschen ein Schicksal zugewiesen und „ ich habe ihnen ihr tägliches Brot gegeben.“ Jesus hat sich bei seinem einzig überlieferten Gebet ausgerechnet bei Enki bedient. Wären die Evangelisten ein paar Zeilen weiter runtergerutscht, dann hieße es im „Vater Unser“ statt „Unser tägliches Brot gib uns heute“ etwas anderes: „Heute lasst meinen Penis gepriesen sein!“
Retter aus Faulheit
Enki war bekannt dafür, Probleme möglichst kostengünstig zu lösen. Eines Tages fallen etwa die himmlischen Schicksalstafeln hinunter in sein Urgewässer und er entscheidet sich dazu, sie zu behalten. Das gefällt dem Gott Ninurta, Wächter der Schicksalstafeln, ganz und gar nicht und er greift Enkis Wesir an. Aus Rache erschafft Enki eine riesige Schildkröte und lässt sie gegen Ninurta kämpfen. Da sich der Gott jedoch verteidigen kann, gräbt Enki eine Grube und Ninurta stürzt hinein. Erst auf Bitten von Ninurtas Mutter Ninlil lässt Enki sie wieder frei.
Ein anderes Mal geht es darum, Ninschubur dabei zu helfen, ihre Herrin Innana aus der Unterwelt zu befreien. Die sumerische Unterwelt ist der Vorläufer des griechischen Hades, der alttestamentarischen Totenwelt und der christlichen Hölle. Im Gilgamesh-Mythos ruft Enki den Geist Enkidus herbei und der berichtet vom Land der Toten: Wenn jemand stirbt, der drei Söhne hat, dann bekommt er Wasser zum Trinken. Wenn jemand mit sieben Söhnen stirbt, dann steht er den Göttern nahe. Auch die sumerische Religion belohnte also eine hohe Kinderzahl, ähnlich wie es Juden- und Christentum später auch tun sollten („Seid fruchtbar und vermehret euch“). Diejenigen Sumerer, deren Körper nicht begraben werden, haben allerdings ein Problem: Sie müssen auf ewig rastlos umherziehen – wie der „Ewige Jude“, der in einer christlichen Legende von 1602 erstmals auftaucht.
Was Ninschubur betrifft, so erschafft Enki für sie zwei Wesen zur Unterstützung – und zwar aus dem Schmutz unter seinen Fingernägeln. Ereschkigal, die herrschende Göttin der Unterwelt, hat Innana leider schon getötet. Doch verzaget nicht: Innana steht nach drei Tagen wieder von den Toten auf, wie es sich Jesus später von ihr abschauen sollte. Mit Enkis Wesen gelingt es schließlich, Innana aus der Unterwelt zu befreien. Wieder einmal betätigt sich Enki als Retter in der Not durch angewandten Hedonismus.
Enkis erotische Abenteuer
Das Land Dilmun war bekannt dafür, dass es sich wunderbar für Landwirtschaft eignete – wenn es dort nur Wasser gäbe. Als ihm seine Tochter Ninsikila lange genug mit der Angelegenheit auf die Nerven gegangen war, entschied sich Enki dazu, Flüsse, Zisternen und Kanäle anzulegen. Um sich von dieser schrecklichen Anstrengung zu erhohen, zieht Enki hinaus ins Marschland und vereinigt sich dort mit einer Göttin. Sie wird sogleich schwanger und gebärt neun Tage später eine weitere Göttin, mit der sich Enki ebenfalls wieder vereinigt. Dieser Inzest wiederholt sich so lange, bis Ninhursag eingreift.
Ihr Plan besteht darin, Enki mit Ursu zu vereinigen, die ebenfalls eine seiner Töchter ist. Dazu gibt sie Ursu den Auftrag, Enki Früchte und Gemüse anbauen zu lassen, wofür Enki einfach das Umland der Stadt überschwemmt. Als Enki nun Gurken und Äpfel zu Ursu bringt, ist sie so erfreut darüber, dass sie sich ebenfalls mit ihm vereinigt. Ninhursag nimmt nun aus Ursus Gebärmutter Enkis Samen und verstreut ihn auf dem Boden. Daraus entstehen eine „Baumpflanze“, eine „Honigpflanze“ und eine „Gemüsepflanze“. Enki entdeckt die Pflanzen, die eigentlich Ninhursag haben wollte, und isst sie auf.
Ninhursag ist wütend auf Enki, weil er die Pflanzen gegessen hat, und will sich nicht mehr mit ihm vereinigen. Ein Fuchs kommt Enki zu Hilfe. Er würde Ninhursag für ihn zurückgewinnen, wenn Enki den Fuchs dafür berühmt macht und ihm zwei besonders tolle Bäume schenkt. Der Fuchs geht zu Ninhursag und sagt ihr etwas, vermutlich (mehrere Zeilen fehlen), dass sich die anderen Göttinnen nicht mehr mit Enki vereinigen wollen oder können (aus Erschöpfung?). Angesichts dieser Notsituation kehrt Ninhursag zu Enki zurück und zeugt mit ihm allerlei weitere Götter und Göttinen.
Glaubten die das wirklich?
Wir können davon ausgehen, dass die Sumerer diese Göttergeschichten tatsächlich geglaubt haben. Vielleicht haben sogar ihre Erfinder selbst an sie geglaubt. Wem das komisch vorkommt, der sei daran erinnert, dass die kritische Geschichtsschreibung, wie wir sie heute kennen, ein noch sehr junges Produkt der Aufklärung des 18. Jahrhunderts ist. Vorher war es gang und gäbe, dass man sich die Historie einfach herbeifantasierte und dann nicht weiter darüber nachdachte, wie wahrscheinlich es ist, dass die Götter, die man gerade bei vollem Bewusstsein selbst erfunden hat, wirklich existieren.
Warum hätten die Sumerer den Göttern sonst Opfergaben darbringen und sie in magischen Ritualen um Wasser und andere Dinge bitten sollen? Man könnte allerdings argumentieren, dass gerade in der weltlichen und geistlichen Führungsschicht ein gewisser Zweifel vor allem an den eigenen, herrschaftslegitimierenden Geschichten vorzufinden war. Die politische Ordnung der Sumerer könnte man nämlich als religiösen Staatssozialismus [7]bezeichnen, die Götter standen also überwiegend im Dienste der Priesterschaft.
Die sumerischen Mythen sind mal tiefgründig, mal sentimental, mal humorvoll und stets behandeln sie „menschliche“ Götter, die sich mit entsprechenden Problemen herumschlagen müssen. Die sumerischen Mythen sind erheblich weniger verbissen und eifernd wie die Geschichten um die Kriege eines eifersüchtigen Gottes, die man aus der Bibel kennt. Erzählungen von einer übernatürlichen Welt spiegeln immer die Verhältnisse und geistige Beschaffenheit ihrer Autoren wider. Im Falle der Sumerer haben wir es mit einer Hochkultur zu tun, die bereits Schulen und Bibliotheken kannte und die Mathematik und Astronomie erfand.
Bei ihnen gab es keine Strafen wie die öffentliche Steinigung für das Aufsammeln von Stöcken am Sabbat (AT), zudem konnten die Belasteten einen fairen Prozess von einem zuständigen Gericht erwarten. Die Strafe [8] für Mord war zum Beispiel die Übereignung des Mörders, samt seiner Familie und seines Vermögens, in die Familie des Opfers. Das heißt natürlich nicht, dass man ihr Strafrecht mit unserem vergleichen könnte, so ging man zum Beispiel noch davon aus, dass Zauberei wirklich existiert und dass man Leute dafür bestrafen kann.
Als die Akkadier Sumer beherrschten
Der akkadische König, Sargon I. (2356-2300 v. Chr.) erwies sich als stärker als die Sumerer und als die Amoriter und herrschte zeitweilig über weite Teile Sumers. Die Akkadische Sargonlegende diente als Inspiration für die Geschichte der Kindheit von Moses im Alten Testament:
„Sargon, der mächtige König, der König von Akkad, bin ich. Meine Mutter war eine Gottesherrin, meinen Vater kannte ich nicht, der Bruder meines Vaters wohnte im Gebirge. ... Es empfing mich die Mutter, die Gottesherrin, im geheimen gebar sie mich, setzte mich in ein Kästchen aus Schilf, mit Erdpech verschloss sie meine Tür, übergab mich dem Flusse. Ohne über mich hinwegzugehen, hob mich der Fluß empor, zu Akki, dem Bewässerer, brachte er mich. Akki, der Bewässerer, holte mich herauf. Akki nahm mich als Sohn an und zog mich groß. Akki, der Bewässerer, machte mich zum Gärtner. Während ich Gärtner war, gewann mich Ischtar lieb, und ich übte die Königsherrschaft aus...“ (Helmut Uhlig; Die Sumerer - Ein Volk am Anfang der Geschichte; S.251)
Das Wort „Sumer“ stammt aus der Sprache der Akkadier. Es bedeutet „Kulturbringer“.
Ausblick
In zwei Wochen folgt der nächste Teil. Dann befassen wir uns mit den Mythen der Nachfolgekultur Sumers, die viel von den Sumerern übernahm und in deren freundschaftlicher Beherbergung die exilierten Israeliten das Alte Testament verfassten: Die Babylonier.
AM
Links:
[1] http://www.darwin-jahr.de/sites/darwin-jahr.de/files/story/node-149-155.jpg
[2] http://www.pinselpark.de/geschichte/einzel/a05_3000_orient/gilga/gilgamesch.html
[3] http://www.bibelwissenschaft.de/uploads/bibelmedien/wibi/WILAT_Tab_Sintfluterzaehlung_1.htm
[4] http://books.google.de/books?id=FU2DMkLMdSIC&pg=PA8&lpg=PA8&dq=Sumerische+Hymne+auf+die+Hacke&source=web&ots=vIMcNRxdFY&sig=u8pM-DjVNjmap7nT7vHcY4JqWCw&hl=de&sa=X&oi=book_result&resnum=1&ct=result#PPA101,M1
[5] http://etcsl.orinst.ox.ac.uk/cgi-bin/etcsl.cgi?text=t.1.1.3#
[6] http://etcsl.orinst.ox.ac.uk/cgi-bin/etcsl.cgi?text=t.1.1.2#
[7] http://books.google.de/books?id=Xndb-qVbku0C&pg=PA72&lpg=PA72&dq=sumerer+strafrecht&source=web&ots=vJGWVa2xoJ&sig=ctSNi0wRC0_aSNWsa1Qf158IaFc&hl=de&sa=X&oi=book_result&resnum=1&ct=result#PPA60,M1
[8] http://books.google.de/books?id=Xndb-qVbku0C&pg=PA72&lpg=PA72&dq=sumerer+strafrecht&source=web&ots=vJGWVa2xoJ&sig=ctSNi0wRC0_aSNWsa1Qf158IaFc&hl=de&sa=X&oi=book_result&resnum=1&ct=result#PPA73,M1