Pan Sapiens | 06.12.2008
Der Mensch hat mit dem Affen einen gemeinsamen Vorfahren. Doch was war dieser Vorfahre? Und was ist der Mensch?
Es gibt vielleicht keine andere Frage, die häufiger an Biologen gerichtet wird, wenn es in der Öffentlichkeit um die Evolution der Menschen geht. Und doch zögern viele Wissenschaftler, eine eindeutige Antwort zu geben. Zu missverständlich erscheint die Frage. Sind heutige Affen oder frühere, längst ausgestorbene Formen gemeint? Was stellt sich der Fragende genau unter einem Affen vor? Immerhin umfasst die Ordnung der Primaten, d.h. die Tiergruppe, die im Deutschen umgangssprachlich als ‚Affen’ bezeichnet wird, mehr als 200 heute lebende und viele ausgestorbene Arten. Andererseits verbirgt sich hinter der Frage nach der Affenabstammung der Menschen ein wichtiges und ernstzunehmendes Problem, das nicht nur Wissenschaftler seit mehr als zwei Jahrhunderten beschäftigt hat.
Das System der Natur
Am 14. Februar 1747 machte der berühmte Botaniker Carl Linnaeus seinem Ärger in einem Brief an den Sibirienforscher Johann Georg Gmelin Luft: „Ich frage Sie und die ganze Welt nach einem Gattungsunterschied zwischen dem Menschen und dem Affen, d.h. wie ihn die Grundsätze der Naturgeschichte fordern. Ich kenne wahrlich keinen und wünschte mir, dass jemand mir nur einen einzigen nennen möchte. Hätte ich den Menschen einen Affen genannt oder umgekehrt, so hätte ich sämtliche Theologen hinter mir her; nach kunstgerechter Methode hätte ich es wohl eigentlich gemusst“.
Was war geschehen? Zwölf Jahre zuvor hatte Linnaeus in der ersten Auflage seines Systems der Natur ein äußerst ehrgeiziges Programm vorgestellt. Er wollte, wie er später schrieb, nicht weniger als „ALLES, was auf der Erde vorkommt,“ benennen und einordnen. Alles – dazu zählten für ihn nicht nur alle Arten der Pflanzen, der Mineralien und der Tiere, sondern selbstverständlich auch die Menschen. Die Art Homo sapiens (vernünftiger Mensch), wie er sie nannte, bekam den ersten Rang zugewiesen, wurde aber zu den vierfüßigen Tieren (‘Quadrupedia’) gestellt und musste sich die Ordnung Anthropomorpha (die Menschengestaltigen) mit Affen und Faultieren teilen. Ab der zehnten Auflage des Systems der Natur (1758) ersetzte er den Namen ‘Quadrupedia’ durch ‘Mammalia’ (Säugetiere) und aus den Anthropomorpha wurden die Primaten, von lateinisch die Ersten. Die Faultiere entfernte er aus der direkten Nähe der Menschen (und ersetzte sie durch die Fledermäuse), aber an dem Punkt, der ihm die meiste Kritik eingetragen hatte, ließ er sich nicht beirren: Die Menschen blieben Teil des Systems der Natur und sie standen nahe bei den Affen.
Die neue Wissenschaft vom Menschen
Aus heutiger Sicht mag man die Aufregung der Zeitgenossen von Linnaeus belächeln, schließlich hatte er nur ein Ordnungssystem geschaffen, das sich zudem lediglich auf gut abgrenzbare körperliche Merkmale bezog. Höhere geistige Fähigkeiten, beispielsweise die Sprache, hat nur der Mensch, davon war Linnaeus wie fast alle Naturforscher seiner Zeit überzeugt. In vielerlei Hinsicht war sein System also ein noch unsicherer erster Schritt. Zugleich markierte es aber den Beginn einer weltanschaulichen Revolution, deren Konsequenzen erst langsam ins Bewusstsein der Menschen treten. Von nun an waren sie ein Teil der Natur, eine Tierart unter vielen. Die uralte Frage nach der Natur des Menschen konnte nicht nur, nein, sie musste mit naturwissenschaftlichen Methoden untersucht werden. Philosophen und Theologen verstanden diese Kampfansage sehr wohl: Die Biologie würde von nun an selbst eine Anthropologie sein, eine Lehre vom Menschen.
Und heute? Welche Chancen hätte der Vorschlag, den „Menschen einen Affen zu nennen oder umgekehrt“? Molekulargenetische Untersuchungen haben gezeigt, dass Menschen mehr als 98 Prozent ihrer DNA und fast alle Gene mit Schimpansen gemeinsam haben (mit Mäusen beispielsweise sind es rund 80 Prozent). Tierarten mit einem so geringen genetischen Abstand werden normalerweise einer einzigen Gattung zugerechnet. Die Menschen wären dann, wie Jared Diamond vor einigen Jahren anregte, neben Schimpansen und Bonobos die dritte Schimpansenart, Pan sapiens. Linnaeus hätte sich über diese späte Rechtfertigung seiner Ideen durch die modernen Biowissenschaften wohl gefreut.
Die Affenabstammung der Menschen
Linnaeus hat die Ähnlichkeit zwischen Menschen und Affen nicht als Folge materieller Verwandtschaft und Evolution gedeutet, sondern er glaubte, dass jede Art getrennt erschaffen worden ist. Einige seiner Zeitgenossen waren da weniger zögerlich, und bald begann man über Menschen als abgewandelte Affen und umgekehrt zu spekulieren. So schrieb Jean-Baptiste de Lamarck in seiner Philosophie Zoologique (1809), der ersten ausgearbeiteten Evolutionstheorie:
„In der Tat, wenn irgend eine Rasse von Vierhändern, besonders die vollkommenste, durch die Verhältnisse oder durch irgend eine andere Ursache gezwungen wurde, die Gewohnheit, auf den Bäumen zu klettern und die Zweige sowohl mit den Füßen als auch mit den Händen zu erfassen [...] aufzugeben, und wenn die Individuen dieser Rasse während einer langen Reihe von Generationen gezwungen waren, ihre Füße nur zum Gehen zu gebrauchen und aufhörten, die Füße ebenso zu brauchen wie die Hände, so ist es [...] nicht zweifelhaft, dass die Vierhänder schließlich zu Zweihändern umgebildet wurden“.
Lamarck schränkt diese Ausführungen insofern ein, als sie nur für die ‘Organisation’ und nur als Gedankenspiel gilt: „Dies [die Abstammung der Menschen von einer Affenart] wären die Reflexionen, die man anstellen könnte, wenn der Mensch [...] sich von den Tieren nur durch die Merkmale seiner Organisation unterscheiden würde und wenn sein Ursprung nicht von dem ihrigen verschieden wäre“.
Der innere Festungsring
Darwin hatte die Frage der menschlichen Evolution in Origin of Species (1859) nicht näher behandelt, um die Widerstände gegen seine Theorie nicht noch weiter zu verstärken. Im Laufe der 1860er Jahre wurde die Abstammung der Menschen dann von verschiedenen seiner Anhänger diskutiert, aber Darwin selbst schien zur Erleichterung vieler Zeitgenossen die Sonderstellung der Menschen nicht anzutasten. Dies ändert sich mit seinem 1871 veröffentlichten Buch The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex (Die Abstammung des Menschen und die sexuelle Auslese). Nun wagte sich Darwin auch öffentlich an den innersten Festungsring des Schöpfungsglauben, die natürliche Erklärung des menschlichen Geistes: „the citadel itself.– the mind is function of body“ (Darwin [1838]).
Darwins „hauptsächliche Schlussfolgerung“ ist, „dass der Mensch von einer weniger hoch organisierten Form abstammt“. Das Prinzip der Evolution bewährt sich auch hier eindeutig, wenn man die embryologischen und morphologischen Ähnlichkeiten, die geographische Verteilung in der Vergangenheit und Gegenwart sowie die geologische Aufeinanderfolge im Zusammenhang betrachte: „Es ist unglaublich, dass alle diese Tatsachen falsch sprechen sollten. Derjenige, der nicht zufrieden damit ist, die Phänomene der Natur wie ein Wilder als unverbunden zu sehen, kann nicht länger glauben, dass der Mensch das Produkt eines getrennten Schöpfungsaktes ist“.
Menschen sind ‚Primaten’, Teil einer Tiergruppe, die man im Deutschen umgangssprachlich als ‚Affen’ bezeichnet. In diesem Sinne stammen die Menschen selbstverständlich von Affen bzw. Menschenaffen ab, aber nicht von heutigen, sondern von fossilen Arten. Dies ist seit mehr als einem Jahrhundert Stand der Wissenschaft:
„Wenn die Entwicklungslehre überhaupt wahr ist, wenn die einzelnen Tierarten nicht ‚durch Wunder erschaffen‘ sind, sondern auf natürlichem Wege sich aus niederen Formen entwickelt haben, dann kann auch der Mensch keine Ausnahme machen; dann ist auch der Mensch – seiner ganzen Organisation nach ein Säugetier – aus der Klasse der Säugetiere phylogenetisch hervorgegangen; und da unter allen Säugern die Affen die bei weitem menschenähnlichsten sind, da die Unterschiede im Körperbau des Menschen und der Menschenaffen viel geringer sind als diejenigen zwischen den letzteren und den niederen Affen, so steht heute unzweifelhaft der Satz fest: ‚Der Mensch stammt vom Affen ab‘. Dabei ist selbstverständlich keine einzige lebende Affenform als Stammvater des Menschengeschlechts anzusehen, sondern eine Reihe von unbekannten, längst ausgestorbenen Anthropoidenarten.“ (Haeckel 1911)
Und was sagte Darwin zur Affenabstammung der Menschen? … „da die Menschen aus genealogischer Sicht zu den Catarrhini [d.h. den Altwelt-Affen Afrikas und Asiens] gehören, müssen wir schließen, so sehr die Schlussfolgerung unseren Stolz verletzen mag, dass unsere frühen Vorfahren korrekterweise so bezeichnet werden müssten” (Darwin 1871).
Warum aber wird die Frage „Stammt der Mensch vom Affen ab?“ noch heute auch von manchen Anhängern der Evolutionstheorie verneint? Es ist richtig, dass die Frage unpräzise und missverständlich formuliert ist: Sind rezente oder fossile Primaten gemeint? Auch impliziert der Singular ‚der‘ Affe fälschlicherweise eine einzelne Form statt einer Vorfahrenreihe. Zudem bezeichnet das Wort ‚Affe‘ im Deutschen sowohl alle Primaten als auch die Teilgruppe der (Schwanz-)Affen im Gegensatz zu den Halb- und Menschenaffen. Und schließlich könnte man mit Linnaeus sagen: Die Menschen stammen nicht von Affen ab, sondern sie sind Affen. Aber: Die Reaktion auf eine missverständliche Fragestellung muss darin bestehen, sie zu präzisieren, anstatt sie pseudo-genau mit ‚Nein‘ zu beantworten. Und so wird die pseudo-genaue ‚Nein‘-Antwort auf die Frage „Stammt der Mensch vom Affen ab?“ ihrerseits zu einer Verschleierung der Tatsachen. Und das Motiv für diese Verschleierung? Es ist wohl nicht erst seit Linnaeus die Angst vor der religiösen Ideologie, der zufolge der Gott des Alten Testaments die Menschen nach seinem Bild erschaffen hat und als einzige mit einer Seele ausstattete.
Die evolutionsbiologische Erforschung der Menschen hat in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte gemacht und die Grenzen ihrer Reichweite sind noch nicht absehbar. So gesehen sind wir Zeugen einer weltanschaulichen Revolution, deren Bedeutung erst langsam bewusst wird: Wir sind das Produkt eines Naturmechanismus aus Variation, Vererbung und Selektion, eine Tierart unter vielen, Maschinen zur Verbreitung unserer Gene. Und in unseren typisch menschlichen Gefühlen, Gedanken und Verhaltensweisen sind wir noch steinzeitliche Jäger und Sammler.
© Thomas Junker. Verändert nach Thomas Junker. Die Evolution des Menschen. Reihe Beck Wissen. München: C. H. Beck Verlag, 2006.
Links:
[1] http://www.darwin-jahr.de/sites/darwin-jahr.de/files/story/node-120-62.jpg