Evolutionäre Psychologie | 01.08.2009

Die revolutionären Konsequenzen der Evolutionstheorie

 

Im Gegensatz dazu wurden die genetischen Voraussetzungen aber in einem ganz anderen Umfeld herausgebildet und sind in dieser Form noch immer existent – so kommt es zu einer Kollision der paläolithischen Gene mit den neuen Umweltbedingungen. Dies führt zu Veränderungen des Fett- und Zuckerstoffwechsels, damit auch der hormonbildenden Systeme, zu Allergien und Unverträglichkeiten auf die neolithischen Nahrungsmittel (z.B. Allergie auf Soja, Erdnuss, Milch, Ei, glutenhaltige Getreide; Unverträglichkeiten wie Laktose- und Fruktose-Intoleranz, Zöliakie), aber auch zu Übergewicht, Zuckerkrankheit, Bluthochdruck, Herzinfarkt, Schlaganfall und Krebserkrankungen. Inzwischen kann man in den USA als Trend schon eine sinkende Lebenserwartung bei den unter 54-jährigen beobachten – ein Alarmsignal auch für Europa.

Wenn man die evolutionären Zusammenhänge kennt und beachtet, lässt sich aber nicht nur die Entstehung der Zivilisationskrankheiten erklären, sondern auch das Scheitern der modernen Ernährungsprogramme. Zum einen propagiert (nicht nur) die Deutsche Gesellschaft für Ernährung die falsche Zusammensetzung der Hauptnährstoffe Protein, Fett und Kohlenhydrate im Vergleich zu unserer paläolithischen Herkunft. Zum anderen gehen die offiziellen Ernährungsempfehlungen nicht darauf ein, dass Nahrungsaufnahme mehr ist als reine Nährstoffaufnahme und auch wichtige soziale Bedürfnisse erfüllt. Menschen sind soziale Tiere! Fastfood-Mahlzeiten mit Hamburger, Pommes frites und Cola befriedigen in fataler Weise diese paläolithischen Bedürfnisse: Fette, süße, gekochte Nahrung, die meist in Gesellschaft und mit den bloßen Fingern eingenommen wird, konnte so zum weltweiten Erfolg werden. Leider entspricht die Zusammensetzung und Qualität dieser Nahrung nicht dem paläolithischen Vorbild und der heutige Bewegungsmangel ist Ursache dafür, dass die überschüssigen Kalorien in Fettdepots auf Hüften und Bauch oder in den Blutgefäßen abgelagert werden. Bloße Appelle zur Fettreduktion müssen aber aufgrund des genetisch fixierten Erfolgsprogramms der maximalen Energieaufnahme scheitern. Die evolutionäre Analyse kann erklären, warum. Sie liefert zudem auch einen Ansatz, wie eine Lösung des Ernährungsdilemmas aussehen könnte. Plakativ könnte man diesen Ansatz als ‚PaläoPower’ bezeichnen: die Anwendung der erfolgreichen Kraft aus zwei Millionen Jahren Menschheitsentwicklung seit der Altsteinzeit (Paläolithikum).

Körperliche Gesundheit setzt voraus, dass die genetischen Anlagen eines Organismus und seine Umwelt zusammen passen. Solange wir nicht an die neuen Nahrungsquellen angepasst sind, empfiehlt es sich daher, gemäß unserer genetischen Ausstattung und den vorhandenen Vorlieben unter Berücksichtigung moderner Lebensverhältnisse zu essen. Dies bedeutet zum einen, unser Nährstoff-Optimierungsprogramm wieder Ernst zu nehmen, und höchste Qualität und Vielfalt einzufordern. Zum anderen sollte man sich die Existenz des Energie-Optimierungsprogramms bei gleichzeitig verringerter Bewegung und erhöhtem Stress bewusst machen. In der Summe bedeutet dies eine Nährstoffzusammensetzung mit deutlich mehr Protein- und wesentlich geringerem Kohlenhydrat- und Fettanteil, ohne Kohlenhydrate und Fette strikt zu verbieten. Dass dies in genussvollen Mahlzeiten statt Diätterror mündet, sei an dieser Stelle mit einem „PaläoPower-Rezept“ belegt: Vorspeise aus gegrillten Zucchini und Auberginen mit Meeresfrüchten, gefolgt von einem gegrillten Steak mit Rosmarinbackkartoffeln und einem frischen Gartensalat als Hauptgang und zum Abschluss ein frisches Obstarrangement mit Nüssen als Dessert. Ebenso wichtig wie der Genuss qualitativ hochwertiger Mahlzeiten in der für Menschen optimierten Zusammensetzung sind aber auch ‚artgerechte’ Lebensbedingungen mit ausreichenden Bewegungs-, Schlaf-, Stressreduktions- und Regenerationsmöglichkeiten.

Qualität, Genuss, eine hochwertige Nährstoffzufuhr und ausreichende Regenerationsphasen sind unabdingbare Voraussetzungen für ein erfülltes menschliches Leben. Diese biologischen Notwendigkeiten kollidieren aber mit politischen Bestrebungen, die darauf abzielen, eine möglichst große Anzahl Menschen möglichst billig zu ernähren und arbeitsfähig zu halten. Wir befinden uns mit 6,5 Milliarden Menschen auf der Erde in einer Art menschlicher Massentierhaltung – wie man sie in geringerem Ausmaß bereits als „Brot-und-Spiele“-Politik bzw. aus der Ernährung der Kettensklaven im antiken Rom kennt. Die evolutionäre Betrachtung moderner Ernährungs- und Lebensbedingungen und die daraus ableitbaren Forderungen für mehr individuelle Qualität deckt also eine politisch unbequeme Wahrheit auf. Ist dies einer der Gründe, warum die Methode und die Erkenntnisse der evolutionären Psychologie öffentlich so heftig bekämpft werden?

Wie weit die Deutungsmacht der Evolutionsbiologie reicht, wenn man die Darwinsche Methode ohne Scheuklappen und voreilige Grenzziehungen konsequent anwendet, hat uns selbst überrascht, als wir uns auch Themen wie Kultur, Kunst oder dem Sinn des Lebens zuwandten. Selbstverständlich werden Menschen in vielerlei Hinsicht durch die Gesellschaft, durch Erziehung und Kultur geformt, aber man kann diese kulturellen Varianten nur verstehen, wenn man die immer präsente Basis, die biologische Natur der Menschen, zum Ausgangspunkt macht. Dann aber erweist sich Darwins Theorie als der geheime Schlüssel, der das Verständnis vieler rätselhafter Verhaltensweisen der Menschen möglich macht.


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