Evolutionäre Psychologie | 01.08.2009

Die revolutionären Konsequenzen der Evolutionstheorie

 

 Die Abstammung des MenschenDie evolutionsbiologische Gegenposition hatte im späten 19. Jahrhundert und seit den 1970er Jahren zahlreiche Anhänger; sie lässt sich bis zu Darwin zurückverfolgen. Im Jahr 1859 hatte dieser auf den letzten Seiten seines berühmten Buches über die Entstehung der Arten eine kühne Prophezeiung gewagt: Durch die Evolutionstheorie werde es „zu einer bemerkenswerten Revolution in der Naturwissenschaft kommen […]. Die Psychologie wird auf die neue Grundlage gestellt, dass jede geistige Kraft und Fähigkeit notwendigerweise durch graduelle Übergänge erworben wird“ (1859: 484, 488). In seinem 1871 erschienen Buch Die Abstammung des Menschen und die sexuelle Auslese diskutierte er dann auf über 150 Seiten die unterschiedlichsten geistigen Kräfte (‚mental powers’) der Menschen und verglich sie mit den Fähigkeiten anderer Tiere. Das Spektrum reicht von Gefühlen, über Neugierde, Nachahmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Vorstellungskraft, Verstand, Werkzeuggebrauch, Abstraktion, Selbstbewusstsein, Sprache, Schönheitssinn, den Glauben an Gott und Geister, den Aberglauben bis hin zu einer ausführlichen Analyse des moralischen Sinns. Geistige Fähigkeiten sind variabel, erblich und wichtig für das Überleben der Tiere. Aus diesen Gründen können sie durch die natürliche Auslese entwickelt werden. Dasselbe gelte für die Menschen. Darwin vermutete auch, dass „Erziehung und Umgebung nur eine geringe Wirkung auf den Geist eines jeden ausüben und dass die meisten unserer Eigenschaften angeboren sind“ (1958: 43). Die Abstammung der Menschen von anderen Tieren bleibt also nicht folgenlos, sondern das evolutionäre Erbe prägt uns auch in geistiger Hinsicht noch heute.

So sahen und sehen das auch viele Anhänger der Darwinschen Theorie. Sigmund Freud beispielsweise schrieb Anfang des 20. Jahrhunderts: Die Biologie habe sowohl „das angebliche Schöpfungsvorrecht des Menschen zunichte“ gemacht, indem sie „ihn auf die Abstammung aus dem Tierreich“ verwies, als auch die „Unvertilgbarkeit seiner animalischen Natur“ behauptet (1916-17: 295). Ein halbes Jahrhundert später verdeutlichte der Paläontologe George Gaylord Simpson die sich daraus ergebenden erkenntnistheoretischen Konsequenzen, indem er darauf hinwies, dass alle Versuche, die Frage – Was ist der Mensch? – vor Darwin zu beantworten, „wertlos“ seien und empfahl, sie „völlig zu ignorieren.“ Bevor man nicht erkannt hatte, „dass der Mensch das Produkt der Evolution von ursprünglichen Affen“ und noch früherer Vorfahren bis zu den ersten Lebewesen sei, hätten die Antworten keine „solide, objektive Grundlage“ gehabt. Auch die nicht-biologischen Wissenschaften können nur sinnvolle Aussagen über das Wesen der Menschen machen, wenn sie von der Tatsache der Evolution ausgehen, andernfalls werden sie Phantasien oder Irrtümer produzieren (1966: 472-73). Die Überzeugung Darwins und seiner frühen Anhänger, dass die Entstehung der Menschen durch natürliche Evolution tiefgreifende Spuren in unserem Verhalten hinterlassen hat, wurde in den letzten Jahrzehnten aufgrund neuer Erkenntnisse der Genetik und Paläoanthropologie verfeinert und präzisiert.

Was sind die grundlegenden Annahmen der neueren evolutionären Psychologie? Der modernisierten Darwinschen Theorie zufolge ist der menschliche Geist eine informationsverarbeitende Maschine, die von der natürlichen und sexuellen Auslese geformt wurde, um Probleme zu lösen, vor denen unsere Jäger- und Sammler-Vorfahren standen. In vielerlei Hinsicht sind Menschen wenig veränderte, Schimpansen-artige Menschenaffen. Bei aller genetischen Übereinstimmung ist aber unverkennbar, dass Menschen sich in einigen Eigenschaften deutlich von den anderen Menschenaffen unterscheiden. Aus verschiedenen Hinweisen lässt sich folgern, dass viele, vielleicht sogar die meisten der für Menschen charakteristischen Eigenschaften in den letzten zwei Millionen Jahren als Anpassungen an das Leben als Jäger und Sammler entstanden sind. Dies gilt für körperliche Merkmale ebenso wie für geistige Fähigkeiten und Verhaltensweisen.

Die Zeit der Jäger und Sammler umfasste mehr als 99,5 Prozent der gesamten Menschheitsgeschichte. Erst nach der bislang letzten Eiszeit begannen die Menschen vor rund 10.000 Jahren allmählich zu einer effektiveren Form der Nahrungsgewinnung, zu Ackerbau und Viehzucht, überzugehen, was zur Folge hatte, dass sich eine neue Lebensweise mit Arbeitsteilung und Staatenbildung durchsetzte (‚Zivilisation’). Aus Sicht eines Menschenlebens sind 10.000 Jahre eine lange Zeit. Aus evolutionärer Perspektive sind es aber nur fünfhundert Generationen und dieser Zeitraum war zu kurz, um entscheidende neue Anpassungen hervorzubringen. Soweit also zu den Grundannahmen der evolutionären Psychologie, wie sie seit Darwin entwickelt wurden.