Evolutionäre Psychologie | 01.08.2009

Die revolutionären Konsequenzen der Evolutionstheorie


Paläopower

Wie entfremdet heutige Menschen von ihren natürlichen Bedürfnissen und Verhaltensweisen sind, zeigte uns die erstaunte Reaktion auf das Kapitel „Steak und Schokolade“ im Darwin-Code, in dem es um das Thema Ernährungsverhalten und Zivilisationskrankheiten geht. „Was hat denn das mit Darwin zu tun?“ war und ist eine häufig gestellte Frage. Dies ist überraschend, sind doch Nahrungsaufnahme und Gesundheit zentrale biologische Eigenschaften. Woher kommt dann das Erstaunen der Leser?

Wir stehen heute tatsächlich vor scheinbar unlösbaren Rätseln bezüglich der Entstehung und Bekämpfung von Zivilisationskrankheiten und des modernen Essverhaltens. Das sichtbarste Zeichen der Problematik ist die epidemieartige Ausbreitung von Übergewicht – nicht nur in den USA, sondern inzwischen auch in Europa und in Schwellenländern. Allein für Deutschland werden die Kosten der Gesundheits- und Sozialsysteme, die durch Übergewicht, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck und Zuckerkrankheit entstehen, auf mehr als fünf Milliarden Euro jährlich geschätzt. Aber sowohl Mediziner als auch Ernährungsberater, Soziologen und Gesundheitspolitiker können diese Entwicklung weder erklären, noch stoppen oder gar ursächlich lösen. Was haben sie bislang möglicherweise übersehen? Ernährung, Gesundheit und Krankheit sind elementare biologische Charakteristika – analysieren wir also die Problematik aus der zu Unrecht vernachlässigten, evolutionären Perspektive.

Etwa zwei Millionen Jahre lebten Menschen als Jäger und Sammler. In diesem langen Zeitraum wurden die Körperfunktionen, der Stoffwechsel und das Nahrungsaufnahme-Verhalten optimal an die vorhandenen Nahrungsquellen angepasst. Entscheidend für das Überleben und die erfolgreiche Reproduktion war eine möglichst optimale Nährstoffversorgung: vor allem in Form von proteinreicher Nahrung wie Fleisch/Fisch/Meeresfrüchte und einem hohen Anteil an Früchten, Blättern, Pilzen und Knollen, die alle in großer Vielfalt genutzt wurden. Zugleich nahm im Lauf dieser Zeit das Gehirnvolumen und die Verarbeitungskomplexität des Gehirns zu – ein sehr energieaufwändiger Prozess, der nur durch die Aufnahme sehr energiereicher Nahrung (vor allem Fett) zu gewährleisten war. Die Menschen der Altsteinzeit entwickelten durch die Prozesse der natürlichen Auslese daher zwei Programme: Ein Nährstoff-Optimierungsprogramm für optimales Überleben und Reproduktion und ein Energieaufnahme-Maximierungsprogramm für die Gehirnfunktionen. Dies führte zu Vorlieben für fettreiche Nahrung, einfache Kohlenhydrate, aber auch zur Präferenz für Früchte, Gemüse, Kräuter, Pilze und Fleisch, ebenso zur Verwendung gekochter Nahrungsmittel, die eine höhere Energiedichte haben und neue Nahrungsquellen zur Verfügung stellen, die roh ungenießbar oder gar giftig wären.

Erst vor weniger als 10.000 Jahren begann mit der Neolithischen Revolution eine neue Lebensweise durch Ackerbau und Viehzucht. Dabei wurden ganz neue Nahrungsmittel in sehr großen Mengen eingeführt: Vor allem Milch und die glutenhaltigen Getreide wie Weizen, Roggen und Gerste – in den letzten 2.000 bis 500 Jahren dann auch in großen Mengen Pflanzenöle, Zucker und Salz, und seit der Industriellen Revolution vor etwa 175 Jahren auch die industrielle Verarbeitung der Nahrung mit Hilfe von Farb-, Konservierungs- und Ersatzstoffen und eine massive Konzentration auf wenige Nahrungsquellen. So stellen von den etwa 30.000 Nutzpflanzen heute nur noch 30 Sorten den Hauptanteil für die Ernährung der Weltbevölkerung. Frisch gekocht wird vor allem in den jüngeren Generationen inzwischen kaum noch – die so genannten „Convenience-Produkte“ wie Fertiggerichte und vorgefertigte Mixturen, sowie Fastfood-Ketten prägen die Nahrungsaufnahme.

Mit dieser rasanten Veränderung der Zusammensetzung und Qualität der Nahrungsquellen konnten unsere Gene jedoch nicht mithalten, sie haben sich bis auf ein paar wenige Ausnahmen (z.B. die Laktose-Toleranz bei ca. 85% der Mitteleuropäer) bezüglich der Nahrungsaufnahme kaum verändert. D.h. die altsteinzeitlichen Genkonstellationen und die daraus entstandenen Verhaltensweisen sind nicht auf die neolithischen Nahrungsmittel abgestimmt. Hinzu kommt noch die Veränderung der Umweltbedingungen: Waren die Jäger und Sammler fast täglich in einer Art Ausdauertraining draußen unterwegs, ist das heutige Leben von Bewegungs- und Lichtmangel durch Arbeit in geschlossenen Räumen, erhöhte Stresslevel, die nicht mehr ausgeglichen werden, und Schlafmangel gekennzeichnet. In der Summe hat sich also eine drastische Verschiebung in der Zusammensetzung der Makronährstoffe, der Art der verwendeten Nahrungsmittel und der Lebensbedingungen in einem evolutionär gesehen sehr kurzen Zeitabschnitt ergeben.