Religion | 02.02.2009

Gott, Gene und Gehirn: Die Evolution der Religiosität


Was ist Religiosität?

Religiosität ist eine Fähigkeit oder Eigenschaft: das mehr oder weniger ausgeprägte Persönlichkeitsmerkmal, eine Religion im weitesten Sinn zu haben und sich so gläubig auf Transzendentes zu beziehen – im Erleben, Denken, Fühlen und Handeln. Doch wie bestimmt man Religion?

„Die Religion ist nichts als der Schatten, den das Universum auf die menschliche Intelligenz wirft“, pointierte es der Schriftsteller Victor Hugo einmal. Der Begriff schillert in seiner Bedeutungsvielfalt – und schon das fordert die menschliche Intelligenz heraus. Bereits 1912 klagte der Psychologe James Henry Leuba darüber, dass es mehr als 50 Definitionen für Religion gäbe. Inzwischen sind noch viele hinzugekommen. Die Situation ist also verwirrend und unübersichtlich – aber keineswegs einzigartig, denn mit vielen zentralen Begriffen verhält es sich ähnlich. (Man frage beispielsweise einmal Philosophen, was „Philosophie“ sei.)

Folgende sieben Merkmale (oder „Bündel“ von Merkmalen) scheinen mir für „Religion“ charakteristisch und sogar wesentlich zu sein:

Transzendenz: der Glaube an eine außer- und übernatürliche Macht oder mehrere Mächte
Ultimative Bezogenheit: das Gefühl der Verbundenheit, Abhängigkeit, Verpflichtung und der Glaube an eine Sinngebung und Bestimmung, sowohl für das Individuum als auch für die Gemeinschaft
Mystik: die Erfahrung des „Heiligen“ bis zum Erlebnis von Einheitsgefühlen mit dieser Macht
Mythos: die Welterklärung, -legitimation und -bewertung bis hin zur Annahme eines unheilen Zustands und eines Heils- und Erlösungsversprechens
Moral: transzendent begründete Wertordnung aus Geboten und Verboten, die das Verhalten der Individuen zueinander, aber auch für sich selbst leiten sollen
Ritus: symbolisch aufgeladene Handlungen oder Gegenstände beispielsweise zur Abweisung des Bösen, zu Heilungsversuchen, zur Reinigung oder für bestimmte Lebensphasen und -übergänge
Gemeinschaft: die soziale Verbundenheit im geteilten und tradierten Glauben – in seinem Erleben und Ausdruck, seiner Erziehung und Verbreitung, seiner Interpretation und Bekräftigung bis hin zu seiner Organisation und Institutionalisierung

 

Diese sieben Merkmale sind stets mit dem Glauben an die Existenz transzendenter Entitäten verbunden. (Das ist selbst in der mehrheitlichen Praktizierung von Religionen wie dem Buddhismus so, in denen eigentlich kein Gott angebetet wird.) Eine solche Annahme transzendenter Wesen ist wichtig für eine Grenzziehung zum Nichtreligiösen. Andernfalls käme es zu irreführenden Vermischungen. Denn es gibt auch säkulare Glaubensdogmen und ultimative Bezogenheiten (etwa in rassistischen Ideologien), ekstatische Erlebnisse (zum Beispiel im Drogenrausch), Riten (wie Fahnen- und Jugendweihen), Gemeinschaften (von Parteien bis zu Fußballclubs) und deren Wertordnungen. Religion ist also nicht mit einem Naturalismus vereinbar, demzufolge nichts Außer- oder Übernatürliches existiert, auch wenn umgekehrt nicht jeder Antinaturalismus eine Religion ist.

Mit den genannten Merkmalen braucht kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben zu werden, auch wenn sie für die meisten praktischen Zwecke genügen dürften. Außerdem müssen nicht alle für jede Religion zwingend zutreffen, zumal die jeweilige „Gewichtung“ in den verschiedenen Religionen variiert. Dabei sind die Merkmale nicht präskriptiv (eine Bestimmung dessen, was Religion zu sein hat); das würde ohnehin zumindest eine naturwissenschaftliche Erforschung einschränken oder womöglich etwas erst konstruieren, das doch rekonstruiert werden soll. Sie müssen aber deskriptiv, adäquat und hinreichend umfassend sein, um nützlich zu sein.

Die additive Merkmalsbeschreibung von Religion macht deutlich, dass Religion und Religiosität kein einheitliches, gleichsam monolithisches Phänomen sind. Deshalb ist es denkbar und sogar wahrscheinlich, dass es keine universelle Erklärung mit jeweils spezifischen wissenschaftlichen Ansätzen gibt, etwa im Rahmen psychologischer, soziologischer, neuro- oder evolutionsbiologischer Perspektiven. Das heißt: Die einzelnen Merkmale „sind“ verschieden und sie „funktionieren“ auch verschieden. Damit ist ihre Realisierung in den Gehirnen verschieden, ebenso ihr bewusstes Erleben und ihre soziale Wirkung.

Für evolutionsbiologische Studien hat dies eine wichtige Konsequenz: Wenn ein Merkmal ein Anpassungsprodukt ist, bedeutet das nicht, dass es alle anderen Merkmale ebenfalls sind. Und das gilt entsprechend auch für die Erklärung von Merkmalen als Nebenprodukt anderer, adaptiver Merkmale oder aber als Folge der kulturellen Evolution. Was jeweils zutrifft ist eine offene Frage, zumindest beim gegenwärtigen Stand der Forschung. Vielleicht müssen die verschiedenen Merkmale unterschiedlich erklärt werden – möglicherweise sind manche rein kulturell, andere evolutionäre Anpassungsprodukte und wieder andere Nebenprodukte. Was der Fall ist, kann nicht durch begriffliche Analysen oder rein spekulativ entschieden werden, sondern ist eine empirisch zu klärende Frage. Daher ist es sehr zu begrüßen, dass Biologen, Anthropologen und Psychologen sie nun verstärkt der Erforschung der Religiosität zuwenden.