Religion | 02.02.2009

Gott, Gene und Gehirn: Die Evolution der Religiosität


Gibt es einen Selektionsvorteil von Religiosität?

Religiosität (beziehungsweise einzelne Merkmale davon) hat unterschiedliche „Funktionen“, und darin könnten auch natürliche oder sexuelle Selektionsvorteile bestehen. In der folgenden Tabelle fasse ich einige der Adaptionshypothesen im Hinblick auf die verschiedenen Merkmale der Religiosität zusammen.

Zum Einfluss von Religiosität auf die Gesundheit gibt es viele Studien. Allerdings sind die Befunde nicht eindeutig. So muss man aufpassen, welche Vergleichsgruppen man jeweils analysiert – bestimmte Risikogruppen sind unter religiösen Menschen seltener vertreten und verzerren somit die Statistik. Außerdem haben religiöse Rituale auch gesundheitsschädliche Wirkungen – etwa durch rituelle Verstümmelungen. Ein weiteres Problem ist der psychische Druck und Stress in manchen Glaubensgemeinschaften, was Depressionen und Zwangserkrankungen verursachen kann. Und generell impliziert eine Korrelation noch keine Kausalität: Religion könnte dazu beitragen, dass es den Gläubigen besser geht, aber es könnte auch umgekehrt sein, dass glücklichere und gesündere Menschen sich eher einer Religion zuwenden oder dass es gemeinsame Ursachen gibt, etwa die soziale Einbindung.

Besonders für die Verbesserung der Kooperation durch Religionen existieren empirische Hinweise. Dies ist momentan die am vielversprechendste evolutionäre Hypothese. Inwiefern die Veranlagung zur Kooperation mit einer genetischen Basis für Religiosität korreliert, und ob das eher ein Indiz für eine direkte Anpassung ist oder sich auch als Nebenprodukt(e) adaptiver Merkmale verstehen lässt, wird allerdings kontrovers diskutiert.

Problematisch ist auch, was genau von der Religiosität Selektionsvorteile hat – falls es solche gibt. Denn es braucht nicht die Religiosität per se sein, sondern kann eines ihrer Merkmale sein, die eine evolutionäre Anpassung darstellt. Insofern ist die Frage nach einer Adaptivität der Religiosität vielleicht viel zu einfach oder gar falsch gestellt. In jedem Fall existiert noch keine gesicherte Antwort. Viele weitere Forschungen sind also nötig!

Fazit: Die Hypothese, dass Religiosität oder die damit verbundenden Merkmale eine evolutionäre Anpassung darstellen, ist beim gegenwärtigen Forschungsstand noch nicht zu entscheiden. Es gibt einige Argumente dafür, aber auch Probleme. Dasselbe gilt für die Deutung von Religiosität als – vielleicht unvermeidliches – Nebenprodukt anderweitig selektierter und somit adaptiver Merkmale.

Wenn religiöse Merkmale kein reines Neben- oder Kulturprodukt wären, sondern adaptive Eigenschaften hätten, bliebe immer noch zu klären, ob es eine ausbalancierte Selektion ist („nicht zu viel und nicht zu wenig Religiosität wäre am besten“) oder eine einseitig gerichtete („je religiöser, umso besser“). Beispielsweise könnte „ein bisschen“ abergläubisch zu sein Vorteile haben (Mustererkennung, Kreativität), aber zu viel schwere Nachteile (bis hin zu pathologischen Psychosen). Und eine gewisse Glaubensfestigkeit mag vor der Absurdität des Daseins schützen (oder ablenken), aber ein fundamentalistischer Wahrheitsanspruch kann Konflikte hervorrufen, die den Glaubenden selbst oder Anders- und Ungläubigen das Leben kosten. Denn selbst wenn etwas in der Vergangenheit nützlich war, kann es heute oder künftig schädlich sein!