Religion | 02.02.2009

Gott, Gene und Gehirn: Die Evolution der Religiosität


Sind Religionen wahr und gut, wenn sie nützen?

Angenommen, Religiosität wird sich – trotz der zahlreichen wissenschaftlichen und konzeptuellen Probleme und offenen Fragen – mindestens teilweise als eine evolutionäre Anpassung erweisen: Was folgt daraus?

Weltanschaulich sicherlich weniger, als manche Gläubige erhoffen, die vielleicht (jedoch keineswegs alle!) eine Bestärkung oder gar Adelung ihrer Religiosität fühlen, wenn diese Selektionsvorteile hätte. Aber:

• Aus der (biologischen) Nützlichkeit folgt nicht die Wahrheit der religiösen Überzeugungen. Nützlichkeit ist nicht Wahrheit.
• Aus der Nützlichkeit folgt auch keine ethische Auszeichnung. Was nützlich ist, ist deshalb noch lange nicht auch (moralisch) gut.
• Wenn Religiosität einen Selektionsvorteil hat, dann kann erklärt werden, warum Religionen so weit verbreitet waren und noch sind. Atheisten und Agnostiker könnten sie dann als nützliche Illusion verstehen – und müssten sich überlegen, wie dem gegebenenfalls begegnet werden könnte.

Allerdings: Wenn etwas erklärbar ist, ist es allein deshalb nicht falsch oder inexistent. Das gilt auch für Religion und Religiosität. Eine biologische (oder auch anderweitige, etwa kulturelle) Erklärung ihres Entstehens und Fortbestehens beweist nicht, dass es keine transzendenten Mächte gibt (und selbstverständlich auch nicht das Gegenteil). Eine Antwort auf die Frage, warum Menschen an Gott (oder andere transzendente Mächte) glauben, beantwortet somit nicht die Frage, ob Gott existiert. Diese beiden Fragen müssen also sorgfältig unterschieden werden. Biologische Erkenntnisse sind in dieser Hinsicht unterbestimmt. Sie sind damit vereinbar, dass Gott ein Produkt unserer Einbildung ist, aber auch, dass er uns die Fähigkeit gab, ihn zu erkennen.

Religiosität ist in erster Linie ein Gegenstand des subjektiven “Fürwahrhaltens”, nicht der Psychologie, Hirnforschung, Genetik und Evolutionsbiologie. Kontext der Interpretationen ist die Lebenswelt. Das macht die Wahrheitsfrage jedoch nicht irrational oder obsolet – im Gegenteil. Aber sie stellt sich auf einer anderen Ebene: der der Philosophie. Und ihre Beantwortung erfordert die Methoden, die argumentativen Standards sowie die Einsichten der Philosophie (Wissenschaftstheorie, Erkenntnistheorie, Anthropologie, Ontologie). Trotzdem haben die empirischen Erkenntnisse einen philosophischen Mehrwert. Es wäre also ignorant oder naiv, die Erkenntnisse der Evolutionspsychologie und Hirnforschung nicht zu berücksichtigen.

Soweit ich sehe, gibt es drei Arten von Quellen des Glaubens – also Ursachen beziehungsweise Gründe für eine religiöse Einstellung:
• Soziale Prägung: Die eigene Familie, Gruppe, Lebenswelt.
• Persönliches Erleben: Spirituelle, mystische etc. Bewusstseinszustände; Offenbarungen; das Studium heiliger Texte; das ästhetisches Erlebnis der Natur (etwa als Schöpfung) und so weiter.
• Rationale Analysen: Hermeneutische Quellenstudien; philosophische Argumente (strengste Form: „Gottesbeweise“).
Diese Quellen genauer zu erläutern, zu diskutieren und einer erkenntnistheoretischen Kritik zu unterziehen, würde an dieser Stelle zu weit gehen. Doch die Aufzählung dürfte genügen, um zu sehen, welche Bedeutung die Erkenntnisse der Evolutionspsychologie und Hirnforschung hier haben: Sie können beitragen zum besseren Verständnis, wie und warum die soziale Prägung funktioniert, was hinter dem persönlichen religiösen Erleben steckt (Hirngespinste?), und sie können zusammen mit philosophischen Argumenten die rationalen Analysen kritisieren beziehungsweise alternative Interpretationen eröffnen.

Fazit: Wenn Religionen nützlich sind, impliziert dies weder dass sie wahr sind noch dass sie gut sind. Um dies zu zeigen, wären zusätzliche, unabhängige Argumente und Indizien erforderlich.

* * *

(Bild oben: Die Gräuel der Kreuzzüge sind ein besonders schreckliches Beispiel religiöser "Kooperation" und ideologischer Mobilmachung. Das historische Gemälde zeigt Massenexekutionen und Kannibalismus während des Ersten Kreuzzugs im Dezember 1098 bei der Eroberung der Stadt Maarat an-Numan im heutigen Syrien. Raoul von Caen berichtete: "In Maara kochten unsere Leute die erwachsenen Heiden in Kesseln, zogen die Kinder auf Spieße und aßen sie geröstet.")

Angesichts des unermesslichen Leids, das auch im Namen von Religionen (und anderen Ideologien) weltweit verursacht wurde und weiterhin wird, geht die naturwissenschaftliche Erforschung der Religiosität und des blinden Glaubens über ein reines Erkenntnisinteresse weit hinaus. Denn wenn Religiosität einen Selektionsvorteil hätte, realisiert sich dieser auf Kosten anderer. Und da Religionen stark polarisierend wirken können, indem sie In- und Out-Groups definieren, bergen sie die Gefahr, durch fundamentalistische Dogmatismen ihre Anhänger dazu zu bringen, Andersdenkende zu massakrieren.

Mit den Worten des Physikers und Kosmologen Steven Weinberg: "Religion hat manches Gute in der Welt bewirkt, aber insgesamt sind ihre Folgen furchtbar. [...] Mit oder ohne Religion werden sich gute Menschen gut verhalten und schlechte Menschen werden Böses tun. Aber der Beitrag der Religion in der Geschichte war, es guten Menschen zu erlauben, Böses zu tun."


Rüdiger Vaas


Zum Weiterlesen

Publikationen des Autors zum Thema:

• Vaas, R. 2005a: Gott und Gehirn. In: Sahm, P. R. u. a. (Hrsg.): Der Mensch im Kosmos. Discorsi: Hamburg, 181-208.
• Vaas, R. 2005b: Hotline zum Himmel. bild der wissenschaft, 7: 30-38.
• Vaas, R. 2005c: Das Gottes-Gen. bild der wissenschaft, 7: 39-43.
• Vaas, R. 2006a: Das Münchhausen-Trilemma in der Erkenntnistheorie, Kosmologie und Metaphysik. In: Hilgendorf, E. (Hrsg.): Wissenschaft, Religion und Recht. Logos: Berlin, 441-474.
• Vaas, R. 2006b: Die Evolution der Religiosität. Universitas, 61: 1116-1137.
• Vaas, R. 2007a: Lohnender Luxus. bild der wissenschaft, 2: 34-41.

  Weitere Infos hier: http://hpd.de/node/954

• Vaas, R. 2007b: Schutz vor Schmarotzern. bild der wissenschaft, 2: 42-45.

• Vaas, R. 2008: Schöne neue Neuro-Welt. Hirzel: Stuttgart.

  Weitere Infos hier: http://www.marburger-forum.de/mafo/heft2008-5/va_de.html

• Vaas, R. 2009: Die Evolution der Evolution. Universitas 64: 4-29.

  Weitere Infos hier: http://www.darwin-jahr.de/evo-magazin/werden-und-vergehen

• Vaas, R. im Druck: Gods, Gains, and Genes. In: Voland, E., Schiefenhövel, W. (Hrsg.): The Evolution of Religious Mind and Behavior. Springer: Heidelberg u. a.

Am ausführlichsten und aktuellsten ist das mit dem Religionswissenschaftler Michael Blume veröffentlichte Buch:

• Rüdiger Vaas, Michael Blume: Gott, Gene und Gehirn. Hirzel: Stuttgart 2009. € 24,–

Weitere Infos hier: http://hpd.de/node/6104

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