Wissenschaft und Religion | 16.02.2009

Es ist alles wahr

 

Man kann, muss alles glauben

Miller erkennt auf der anderen Seite an, dass jeder Wissenschaftler die Freiheit hat, die Welt so zu sehen, wie er oder sie das möchte: Wenn Francis Collins zum Beispiel glauben möchte, dass der historische Jesus tatsächlich von den Toten auferstanden ist und noch immer in ätherischer Form existiert, was ihn scharfsichtig und der Masturbation gegenüber leicht abneigend macht, dann weichen diese Überzeugungen nicht einmal ein bisschen von seiner Statur als Wissenschaftler ab. Ein Mann wie Dawkins, der vor langer Zeit als strenger Anhänger des biologischen Naturalismus entblößt wurde, mag sich dazu entschließen, solche Dinge nicht zu glauben. Das ist seine Entscheidung. Doch angesichts seiner entschlossenen Leugnung des erstandenen Christus – und, wahrlich, der bloßen Existenz eines liebenden und fürsorglichen Schöpfers – ist Dawkins nicht in der Position, Collins Ansatz zu kritisieren, weil er einfach keinen inneren Einblick hat, wie brüchig die wissenschaftliche Vorstellungskraft werden kann, sobald sie vom christlichen Glauben herausgefordert wird.

 

Der Böse Blick

Miller ist besonders gut darin, die wissenschaftliche Vernunft von jeder anderen Art menschlicher Erkenntnis zu trennen. Es ist von zentraler Bedeutung für den Leser zu verstehen, dass die Wissenschaft ein Gewerbe ist: Was ein Wissenschaftler glaubt, ist bedeutungslos, solange er seine wissenschaftliche Arbeit sauber macht. Das war schon ein Stolperstein für zahlreiche Möchtegern-Intellektuelle, die sich einbilden, dass Wissenschaft etwas mit einem umfassenden Verständnis des Universums zu tun haben könnte, oder dass die Kenntnis der Quantität und Qualität von Belegen vielleicht keine Grenzen kennt. Womöglich wird eine Analogie hilfreich sein: Sagen wir einmal, ein Herzchirurg glaubt, dass Autounfälle nicht von menschlicher Unachtsamkeit, versagenden Bremsen, etc. ausgelöst werden, sondern durch den Bösen Blick. Würde das seine Statur als Arzt verringern? Natürlich nicht – weil Herzchirurgie nichts zu tun hat mit den Indiskretionen zwischen Auto und Fahrer. Wie Miller sagt: „Die wahre Frage lautet, ob die Meinung eines Wissenschaftlers über Gottes Existenz mit seiner wissenschaftlichen Arbeit inkompatibel ist. Das ist sie eindeutig nicht.“ Ja, das ist so eindeutig wie die aufgehende Sonne. Ich würde nur hinzufügen, dass der Glaube an den Bösen Blick problemlos vereinbar ist mit der modernen Medizin – mit der möglichen Ausnahme der Augenheilkunde. Manche haben dies die „Balkanisierung der Epistemologie“ genannt. Ich denke, dass Begriffe wie „Epistemologie“ überbewertet sind. Und das denken auch die meisten Amerikaner.

 

Die tiefgründigste Frage

Endlich gelangt Miller zur tiefgründigsten Frage von allen:

„Man kann sich in der Tat die Wissenschaft in jeder Hinsicht zu eigen machen und trotzdem noch eine tiefergehende Frage stellen, eine, für die sich Coyne nicht zu interessieren scheint: Warum funktioniert die Wissenschaft? Warum ist die Welt um uns herum auf eine Weise organisiert, die sie unseren logischen und intellektuellen Kräften zugänglich macht?“

Ich habe mich oft gefragt, warum das Gehen geht. Warum ist die Welt auf eine Weise beschaffen, dass wir auf ihr herumlaufen können? Und warum sollten unserer Fähigkeit, uns derart frei zu bewegen, Grenzen gesetzt sein, wie etwa jene, die uns die höchsten Höhenlagen aufnötigen? Tatsächlich hielt ich dieses Thema meiner doktoralen Disseration für angemessen, wurde jedoch auf grausame Weise durch einen fantasielosen Berater davon abgebracht. Und doch meine ich, geht Millers Frage sogar noch tiefer. Männer wie Coyne und Dennett haben ihre Augen von der Antwort eindeutig abgewandt – eine Antwort, auf die über 90% ihrer am wenigsten gebildeten Nachbarn ohne Probleme gekommen sind: Das Universum ist für die Vernunft erkennbar, weil der Gott Abrahams es so erschaffen hat. Dieser Gott, der einst eine Vorliebe für Menschenopfer an den Tag legte und dessen einzige direkte Kommunikation mit der Menschheit (durch die Bibel, vertreten durch den Heiligen Geist) nicht das geringste wissenschaftliche Verständnis preisgibt, hat uns trotzdem die geistige Fähigkeit eingeflößt, um hierauf seinen wundervollen und Furcht einflößenden Kosmos in wissenschaftlichen Begriffen zu erfassen. Warum die Wissenschaft nun als der größte Agent der Abschwächung religiösen Glaubens in der Welt angesehen worden ist und warum die Wissenschaft von religiösen Menschen in beinahe allen Kontexten als Bedrohung angesehen wurde, das ist eines der letzten Mysterien, die menschlicher Analyse nicht zugänglich sind. Wenn Gott von uns erwartet hätte, dass wir gute und schlechte Gründe, etwas zu glauben, unterscheiden können, so meinte ich oft, hätte er diesen Unterschied für jeden verständlich gemacht.

 

Was nicht passt, ...

Das Universum ist vollkommen und widerspruchsfrei. Was auf einer Ebene der Physik oder Biologie als ein Widerspruch erscheinen kann, wird stets durch höhere vibrierende Energien miteinander vereinbart, oder, wie Miller hervorhebt, durch „Wunder“. Wunder, wie man kaum zu erwähnen braucht, sind genau die Art von Ereignissen, die sich dem rationalen Verständis entziehen und die jeden, der ein umfassendes Verständnis der Welt anstrebt, an ihnen zweifeln lassen würde. Das heißt also, wenn Jesus von einer Jungfrau geboren wurde, die Toten auferweckte, selbst von diesen nach einem kurzen Zwischenspiel auferweckt wurde, dann körperlich in den Himmel gefahren wäre und daraufhin von dort oben Juden und Homosexuellen für zwei Jahrtausende ein beständiges Misstrauen gegenüber unterhalten hätte – das wäre genau die Art von Ereignissen mit geringer Wahrscheinlichkeit, von denen Leute wie Coyne, Dennett und Dawkins annehmen würden, dass sie sich niemals zugetragen haben. Das bedeutet, dass die Zweifel von fundamentalistisch-atheistischen, rationalistisch-neo-humanistischen säkularen Militanten die Wunder von Jesu' Wirken tatsächlich plausibler machen, als sie es andernfalls wären. Jerry, Dan, Richard – bitte macht euch darüber einmal Gedanken.

 

Sam Harris

Quelle: Edge.org

Übersetzung: AM