Presseschau | 25.04.2010

Es gibt kein Thema

 

Was sind Entscheidungen?

Ein Verkaufsstand, der viele verschiedene Sorten von Marmelade anbietet, zieht viele Kunden an – aber diese kaufen wenig. Werden dagegen nur wenige Sorten angeboten, kommen weniger Kunden, die aber mehr kaufen. So das Ergebnis eines bekannten psychologischen Experimentes von Sheena Iyengar. Sie hat nun ein Buch herausgebracht namens „Die Kunst der Wahl“, in dem sie sich näher mit Entscheidungen befasst. Darin erfährt man zum Beispiel, dass Japaner tägliche Rituale wie Zähneputzen nicht als Entscheidungen verstehen, Amerikaner dagegen schon.

 

Vom Irrenhaus zum Mainstream

So könne man laut dem Psychologen Vaughan Bell die Geschichte der Psychiatrie zusammenfassen. Der Soziologe Andrew Scull ist Experte für die Psychiatrie und ihre Geschichte. Im oben verlinkten Lancet-Beitrag kommt er zu vernichtenden Ergebnissen: „Das US National Institute of Mental Health erklärte die 1990er zum ‚Jahrzehnt des Gehirns‘. Ein simplistischer biologischer Reduktionismus wurde immer mehr Herr im psychiatrischen Haus. Patienten und ihre Familien wurden dazu gebracht, Geisteskrankheiten mit fehlerhafter Gehirn-Biochemie zu erklären, mit Dopamin-Defekten oder einem Mangel an Serotonin. Es war ein so extrem irreführendes und unwissenschaftliches Bio-Geschwafel wie das Psychogeschwafel [Psychoanalyse], das es ersetzte, aber als eine Marketing-Kopie war es unbezahlbar. […] In bemerkenswerten Ausmaßen wird die Psychiatrie heute von Drogengeld [der Pharmaindustrie] beherrscht.“

Unser Tipp: Besser nicht verrückt werden.

 

Gibt es ein Kriegergen?

Eine ganze Weile lang war das sogenannte „MAOA“-Gen in der Diskussion, wenn es darum ging, antisoziales Verhalten zu erklären. Die Wahrheit ist erheblich komplexer. Die Funktion des „Kriegergens“ ist eigentlich sehr wünschenswert: MAOA codiert ein Protein, das abgenutzte Signalmoleküle im Gehirn abbaut, darunter Serotonin, Noradrenalin und Dopamin. Wenn das Gen seinen Job nicht gut macht, kommt es zu unnormalen Verhaltensweisen und Launen. Die Variante MAOA-L ist zum Beispiel nur geringfügig aktiv und produziert entsprechend wenige Müllsammler-Proteine. Die Genvariante MAOA-H dagegen ist aktiver (hat jedoch etwas mit betrügerischem Verhalten zu tun).

Nun werden wir Sie zuerst verwirren und dann aufklären, damit Sie ordentlich was lernen und ganz erstaunt sind: Das MAOA-L-Gen hat etwas mit Gewalt und Aggression zu tun und wurde darum von der Journalistin Ann Gibbons im Jahre 2004 zum „Kriegergen“ erklärt. Kevin Beaver von der Florida State Universität fand heraus, dass Jungen mit dem Gen häufiger kriminellen Banden beitreten und diejenigen, die Banden beitreten, wenden viermal so häufig Gewalt an. Avshalom Caspi und Terrie Moffitt der Duke Universität haben die Entwicklung von 442 Männern aus Neuseeland beobachtet. Das Drittel mit der MAOA-L-Variante entwickelte mit höherer Wahrscheinlichkeit antisoziale Störungen und gewalttätiges Verhalten.

Und hier die erste Überraschung: Ein Drittel aller weißen Männer haben das MAOA-L-Gen und die meisten von ihnen haben mit Kriminalität und antisozialem Verhalten nichts zu tun. Überraschung zwei: Die Männer mit dem Gen aus der Studie der Duke Universität wurden nur dann später gewalttätig oder anitsozial, wenn sie als Kinder schlecht behandelt oder missbraucht worden sind. Die Information, dass Männer mit MAOA-L-Gen häufiger Banden beitreten, besagt auch nicht so viel, wenn man bedenkt, dass die allermeisten Männer überhaupt keinen Banden beitreten. Gene mögen ein bestimmtes Verhalten wahrscheinlicher machen, aber wie wir uns tatsächlich verhalten, hängt von der Situation ab, in der wir uns befinden.

Der Wissenschaftsjournalist Ed Yong hat vier Lektionen aus der MAOA-Debatte gezogen:

 

  1. Ein griffiger Name ist zwangsweise irreführend

  2. Natur und Umwelt sind untrennbar miteinander verbunden

  3. Gib Acht, keine Klischees zu verstärken (in den Medien wurde fälschlicherweise berichtet, dass Maoris häufiger das Kriegergen tragen)

  4. Gene diktieren kein Verhalten

 

In Italien kam einmal mehr die „Meine Gene sind schuld“-Verteidigung bei einem Gerichtsprozess zum Zug. Ein algerischer Immigrant namens Abdelmalek Bayout ermordete einen Mann namens Walter Perez, weil der sich über Abdelmalek lustig gemacht hatte. Seine Verteidiger argumentierten, dass er so handeln musste, weil er das MAOA-L-Gen besaß. Er bekam tatsächlich ein Jahr weniger Haft. Das Problem ist, dass man daraus auch den anderen Schluss ziehen könnte: Da Abdelmalek das MAOA-L-Gen besitzt, könnte er schließlich häufiger Verbrechen begehen und müsste darum länger eingesperrt werden. Es wäre sinnvoller, die gesamte Familiengeschichte einzubeziehen, die Informationen über Gene, sowie Umwelt und soziale Faktoren beinhaltet. Um Schuld oder Unschuld zu bestimmen, dazu taugen Informationen über genetische Anlagen sowieso nicht.